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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Vangelis?“
    Jakob wurde rot und nickte. Es fühlte sich komisch an, dass Marius die gleichen Erlebnisse mit Stefan gehabt hatte.
    Die Wahrheit war, dass er nicht genug bekommen konnte von diesem Mann, der wenig Worte machte und sich durch Körperlichkeit auszudrücken schien. In dessen Händen und Fingern sich jede Berührung zu potenzieren schien und in Jakob Gefühle auslöste, die er noch nie erlebt hatte. Gefühle, die nach mehr verlangten, süchtig machten, ihn alles andere vergessen ließen. Und dann der Sex. Mit Marius war er immer gut gewesen, mit Stefan war er … unbeschreiblich.
    Obwohl die ersten beiden Treffen in dieser Hinsicht ein Desaster gewesen waren. Weder Jakob noch Stefan hatten einen hochbekommen, so verzweifelt sie sich auch abmühten und so sicher sie sich waren, dass sie es wollten. Stefan hatte sich schließlich halb resigniert, halb lachend aufs Bett zurückfallen lassen und gesagt: „Sieht aus, als wollten uns unsere Körper etwas mitteilen.“
    „Ich bin positiv“, hatte Jakob daraufhin gesagt.
    „Ich auch“, hatte Stefan erwidert und noch mehr gelacht.
    Es tat gut, darüber zu lachen. Zu wissen, dass sie nicht mehr vorsichtig sein mussten, weil ihnen das Schlimmste schon passiert war. Erst dann war der Knoten geplatzt.
    Jakob hatte sich immer gefragt, was wohl gemeint war, wenn man mit jemandem verschmolz, hatte diese Formulierung in schnulzigen Liebesromanen nie nachvollziehen können. Es bedeutete, im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr zu wissen, wo der eine begann und der andere aufhörte; es bedeutete, Stefan in die Matratze zu ficken und ihn hilflos „Gib’s mir, gib’s mir!“ betteln zu hören; es bedeutete, ihm eine Hand um den Hals zu legen und die Luft abzudrücken, während er keuchend nach mehr verlangte, und erst im letzten Moment wieder loszulassen; es bedeutete, ihm den Schwanz so tief in den Rachen zu stoßen, dass man ihn kaum noch spürte. Es bedeutete, Stefan in den Armen liegen zu haben und sein zufriedenes Seufzen zu hören, wenn man ihm die Brust streichelte.
    Jakob vergaß buchstäblich Zeit und Raum, wenn er bei ihm war, bis er auf die Uhr schaute und erschrocken bemerkte, dass drei oder vier Stunden vergangen waren. Wenn er in Stefans Augen sah, erblickte er in den dunklen Pupillen sich selbst. Wenn Stefans Hände ihn berührten, konnte er sich wieder spüren. Die hilflosen, heftigen Zuckungen, die Stefans gesamten Körper erzittern ließen, wenn er kam, faszinierten ihn, und es machte ihn stolz, dass er, Jakob, es war, der so etwas hervorrief. Nichts, was er bisher kannte, hatte ihn auf die sinnlichen Erfahrungen vorbereitet, die er mit diesem Mann erlebte. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass er immer mehr wollte.
    Wenn sie redeten, dann erzählte Stefan stockend von seinem Job als Krankenpfleger auf einer Schwerstverbranntenstation, von den Tragödien, die dort tagtäglich geschahen und wie sehr die Patienten nach Trost hungerten, wie belohnend ein Lächeln von ihnen war. Oder er erzählte davon, dass er Gefahr lief, diesen Job zu verlieren, weil das Krankenhaus durch eine Indiskretion des Personalrates von seiner Infektion erfahren hatte und ihn auf eine weniger gefährliche Station, nämlich auf die Geriatrie, versetzen wollte, wo ihn die Kollegen aber auch nicht haben wollten, aus Angst vor einer Ansteckung. Später, als Jakob selbst mit der Diskriminierung durch seinen Professor konfrontiert wurde, erinnerte er sich an dieses Gespräch, und er verstand, wieso Stefan sich nicht gewehrt hatte und sich nach einigen Monaten mit gerade einmal fünfunddreißig Jahren lieber berenten ließ: weil diese Diskriminierung zu sehr überraschte. Weil sie sprachlos machte. Weil man sich ihrer schämte.
    Nach den Treffen mit Stefan fühlte Jakob sich ausgelaugt und erschöpft, als hätte jemand seine Energien abgezapft und ihn mit einer leeren, ausgebrannten Batterie zurückgelassen. Zu Hause fiel er todmüde ins Bett und schlief acht Stunden am Stück, traumlos, reglos, wunschlos.
    „Ja“, sagte Marius jetzt, „ich kann mich gut erinnern.“ Es klang beinahe wehmütig.
    „Warum … warum hast du ihn nicht mehr wiedergesehen?“, fragte Jakob.
    „Ich bin mit dir zusammen, und er wollte mehr. Da habe ich abgeblockt.“
    „Oh.“ Jakob konzentrierte sich darauf, die Einkäufe wegzuräumen. Mehl und Zucker in den Vorrat. Oliven und Eier in den Kühlschrank.
    „Jakob? Hast du dich verliebt?“
    Zigaretten, Lauch, Äpfel, Waschmittel. Hatte er nicht auch

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