Wie Jakob die Zeit verlor
Philips Art, das Leben prinzipiell nicht zu ernst zu nehmen, hat etwas Erfrischendes nach Jakobs überbordender Melancholie und grenzenloser Traurigkeit. Und es fühlt sich gut an, endlich wieder jemanden spüren zu können, anzufassen. Arne erinnert sich daran, wie Jakob zurückgezuckt ist, wenn er ihn in den letzten Monaten berührt hat, sich verschlossen hat wie eine Schachtel, in der ein Geheimnis aufbewahrt wird. Andererseits: ein Stricher? Und dann der Altersunterschied? Unmöglich. Arne beruhigt sich damit, dass es nur Planspiele sind. Außerdem ist er noch nicht mit Jakob fertig.
Immer wieder ertappt er sich dabei, dass seine Gedanken auf die Suche nach Jakob gehen, sich ausmalen, was er gerade tut, wo er sich gerade aufhält. Immer wieder beobachtet er sich, wie er blind an die Wand oder aus dem Fenster starrt und an den Mann denkt, mit dem er die letzten Jahre seines Lebens geteilt hat. Manchmal vergehen fünf Minuten, manchmal eine halbe Stunde, bevor er aufschreckt und zu sich kommt. Es ist, als vergäße die Zeit ihre Bestimmung, nämlich in exakt messbaren Intervallen zu verrinnen, wenn er Jakob vor sich sieht.
Philip trudelt meist irgendwann im Laufe des Abends ein, manchmal ist er schon da, wenn Arne aus der Firma kommt, und surft auf Arnes Laptop durchs Internet, manchmal kommt er erst am späten Abend, gestern erst mitten in der Nacht. Immer aber ist das Erste, was er tut, sich an Arne anzukuscheln und seine Finger in Arnes behaarter Brust zu vergraben. Was dann immer zu mehr führt. So viel Sex wie in den letzten Tagen hat Arne seit Jahren nicht mehr gehabt. Also kann Philips andauernde Anwesenheit doch nicht ausschließlich auf egoistischen Motiven beruhen, oder?
Genauso wie Jakob einige Tage zuvor hat Arne schockiert auf die Geschichte reagiert, die hinter dem Schlangen-Tattoo auf Philips Rücken lauert, hat den Kopf geschüttelt, als Philip von seinem rastlosen Leben erzählt hat, von den vielen Städten und provisorischen Heimstätten. Aber anders als Jakob hat er Philip keine Vorhaltungen gemacht, weil er die Körperverletzung nicht juristisch hat verfolgen lassen. Er hat verstanden, warum ein sechzehnjähriger Jugendlicher damit völlig überfordert gewesen wäre.
Anfangs hat Philip erstaunt und verständnislos auf Arnes Ansinnen reagiert, nur mit Gummi zu ficken, obwohl er keinen Hehl daraus gemacht hat, positiv zu sein.
„Aber ich bin negativ!“, hat Arne geantwortet.
„Und mich nerven die Dinger!“, hat Philip gemault. Auf diese Antwort war Arne durch seine Erfahrungen mit Jakob jedoch gewappnet und hat sich nicht davon abbringen lassen, bis Philip schließlich eingewilligt hat. Schmollend hat er sich das Gummi übergerollt – und Arne anschließend ins Nirwana gevögelt.
„So viel schlechter als ohne?“, hat Arne anschließend gefragt.
„Erheblich schlechter“, hat Philip geantwortet, aber das Grinsen in seinem Gesicht hat seine Antwort Lügen gestraft.
„Du solltest besser Acht geben auf dein Leben.“
„Halt’s Maul, Alexander“, hat Philip erwidert und ihn mit einem Kissen beworfen. „Du bist nicht mein Papa, sondern nur ein Fick.“
Mehr als einmal war Arne kurz davor, Philip zu sagen, wie sein richtiger Name lautet, aber der passende Moment hat sich nie eingestellt, und je länger er wartet, desto schwieriger scheint es zu werden, diesen Augenblick zu finden. Außerdem gewöhnt er sich langsam an sein Alias. Genauso wie dieses leere Apartment, genauso wie Philip, passt der fremde Vorname zu seiner Situation. Ein Zwischenleben. Und so saugt Arne träge den süßlichen Duft des Ginsters auf und lässt sich treiben, bis etwas geschieht, was ihn aus seiner Lethargie herausreißt.
„Ich hab Hunger.“ Philip steht mit nacktem Oberkörper vor ihm, ein Handtuch um die Hüften geschwungen, und rubbelt sich die Haare trocken. „Gehen wir zu Mägges?“
„Wohin?“
Philip rollt die Augen. „McDonald’s.“
„Kommt nicht in Frage. Ich betrete kein Restaurant, in dem man sein Essen in einer Kunststoffverpackung auf das Tablett geklatscht bekommt.“
„Döner?“
Arne setzt sich auf und betrachtet Philips Bauchmuskeln, die wenigen, hellen Haare auf seiner Brust. „Kann jemand wie du mit Messer und Gabel essen?“, fragt er augenzwinkernd.
„Jemand wie ich nimmt Nahrung eigentlich lieber in flüssigem Zustand zu sich und schmeißt noch ein paar Drogen hinterher. Nur so kann man die fetten, alten Säcke ertragen, die über einen drüberrutschen.“
„Dann
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