Wie Jakob die Zeit verlor
gleich, dem Absturz nach einem Höhenflug, insbesondere, wenn er gerade von Stefan zurückkehrte. Dann war ihre Vertrautheit ihm nicht mehr genug, wirkte ihre gemeinsame Geschichte fade und langweilig, kam ihr Zuhause ihm eng und zu alltäglich vor. Was war ein Fernsehabend mit Marius gegen die Ekstase in Stefans Bett? Was war die Sorge um Marius gegen das Vergessen, das Stefan versprach? Trotzdem liebte er Marius, natürlich tat er das, er hatte ihn mehr als zwei Jahre geliebt, solche Gefühle lösten sich nicht plötzlich in Luft auf. Und doch: Jakob hatte Angst. Angst, dass diese Liebe mit der Zeit unter die Räder kommen würde, austrocknen könnte wie ein See, der von seinen Zuflüssen abgeschnitten ist. Schon jetzt fühlte sie sich kleiner an, unscheinbarer als das, was er für Stefan empfand. Litt unter der Verantwortung, die er fühlte. Ja: Er wollte nicht mehr verantwortlich sein, wollte sich einer Last entledigen. Leicht sein. Und er wollte sich nicht mehr zerrissen fühlen, hin und her gerissen zwischen diesen beiden Männern, diesen beiden Lieben, die auf ihn bauten.
Auch deshalb war er am vorherigen Wochenende überstürzt zu Katrin gereist, um Abstand zu gewinnen. Um nachzudenken und einen Entschluss zu fassen. Als er seine Tasche bei Katrin auspackte, hatte er zwischen seiner Wäsche einen kleinen Teddybären gefunden, mit schwarzen Kulleraugen und einer grünen Schleife um den Hals. Nur Marius hatte ihn heimlich in die Tasche stecken können. Ein Stofftier als stummes Zeichen, als schweigende Bitte.
„Kannst du morgen Nachmittag zu uns kommen?“, fragte Jakob und setzte sich auf.
Stefan öffnete die Augen. „Zu euch? Warum?“
„Tu es einfach. Ich muss mit euch reden. Mit euch beiden.“
Später würde er sich immer an das Gebrumm der Hummeln erinnern, die auf dem Balkon pollentrunken um den Lavendel tanzten. Würde sich an die Sonne erinnern, die an diesem Tag wie zum Hohn vom Himmel brannte, mit ganzer Kraft den Asphalt der Straßen zum Glühen brachte. Der Kater hockte in Lauerstellung unter der Balkonbrüstung, den Blick starr auf die Insekten gerichtet, nur die Haare seines Schnurrbarts zitterten vor Erregung.
„Er wird sich einen Stich in die Pfoten einfangen“, sagte Marius.
„Hummeln stechen nicht. Oder zumindest nur selten“, antwortete Jakob nervös. Immer wieder suchte sein Blick die Wohnungstür. Gleich würde es schellen. Gleich würde Stefan kommen. Dann gab es kein Zurück mehr.
„Du musst das nicht tun.“ Marius’ Stimme war leise, fast nicht zu verstehen. „Ich weiß, was du vorhast. Du musst das nicht tun.“ Er hockte auf dem Sofa, die Beine an die Brust gezogen, an der Wand über ihm Andy Warhols Druck von Marilyn Monroe. Sie hatten das Bild gemeinsam ausgesucht, an einem Samstagnachmittag vor einem halben Jahr, als sie sich beide eine Zukunft ohne den anderen nicht vorstellen konnten. Hatten lange Zeit über die Farbe des Rahmens gestritten, bis sie sich auf violett einigten.
Jakob schüttelte unwillig den Kopf. Was wusste Marius schon davon, wie er sich fühlte! Das ewig schlechte Gewissen, wenn er in Stefans Armen lag. Die Sehnsucht, wenn er zu Marius zurückkehrte. „Doch“, sagte er. „Ich …“
Die Klingel an der Wohnungstür ließ sie beide zusammenfahren. Marius’ Augen flehten ihn ein letztes Mal an, aber Jakob wich dem Blick aus und öffnete.
Es war sonderbar, Stefan zusammen mit Marius zu sehen. Sie benahmen sich nicht wie Konkurrenten, verstanden sich nicht als Gegner. Natürlich, Jakob wusste, dass sie auch einmal ein Wochenende lang etwas miteinander gehabt hatten, aber trotzdem … In seiner Vorstellung hatte er sich einen abweisenden Marius und einen reservierten Stefan ausgemalt, doch stattdessen lächelte Stefan sein schüchternes Lächeln und umarmte Marius, und Marius erwiderte die Umarmung, als müssten sie sich gegenseitig Kraft geben für das, was in den nächsten Minuten über sie hereinbrechen, was Jakob ihnen antun würde.
„Ich kann das nicht mehr“, begann er schließlich mit gesenktem Blick. „Ich habe in den letzten Monaten versucht, mich zu teilen, aber es zerreißt mich.“ Sie hatten im Wohnzimmer Platz genommen. Marius und er auf dem Sofa, Stefan auf einem der schwarzledernen Schwingsessel von Le Corbusier, die Marius so schön fand. „Ich halte das nicht mehr aus.“
„Aber wieso?“ Jakob konnte spüren, wie vorsichtig Stefan seine Worte wählte. „Hat sich einer von uns beiden jemals beschwert?“
„Nein,
Weitere Kostenlose Bücher