Wie Kinder heute lernen
Gedächtnis) und alle gewohnheitsmäßigen Kenntnisse, erlernte oder imitierte Reaktionen, denen gemeinsam ist, dass sie weitgehend unbewusst sind und sich oft nur schwer in Worte fassen lassen. Gemeinhin denken wir bei Gedächtnis vor allem an das explizite Gedächtnis, also persönliche Erinnerungen und Faktenwissen. Dies macht aber nur einen Bruchteil unseres Gedächtnisses aus. Der weitaus größere Teil dessen, was wir im Leben gelernt haben, besteht aus dem impliziten Gedächtnis. Bemühen wir zur Veranschaulichung die Computermetapher: Wäre unser gesamtes Gedächtnis auf einer Festplatte gespeichert, wäre das implizite Gedächtnis gleichzusetzen mit den dort abgespeicherten Programmen. Hier sind also die Erinnerungen abgelegt, wie eine Tätigkeit ausgeführt wird. Dem expliziten Gedächtnis entsprächen die Dateien, auf denen Informationen darüber hinterlegt sind, was wir erlebt haben, was wir wissen und wer wir sind.
Untersuchungen mit Hilfe von bildgebenden Verfahren und Studien an Patienten mit spezifischen Gedächtnisausfällen haben ergeben, dass das Gehirn sich genau genommen nicht nur in zwei, sondern in vier verschiedene Gedächtnissysteme unterteilen lässt.
Innerhalb des expliziten (deklarativen) Gedächtnisses unterscheidet man zwei Untertypen: Das autobiografische Gedächtnis, in dem Ereignisse aus unserem Leben gespeichert werden, also Informationen darüber, wann etwas mit wem und wo geschah (Quellengedächtnis). Und andererseits das Faktengedächtnis (Wissenssystem oder auch semantisches Gedächtnis), das unser Wissen über die Welt umfasst, das klassische Schulwissen, generelle Zusammenhänge oder semantisch-grammatikalische Kenntnisse ( Abb. 4 ).
Unabhängig von diesen Gedächtnissystemen und der ihnen zugrunde liegenden Strukturen existieren zwei weitere, implizite Gedächtnissysteme: das prozedurale Gedächtnis und Priming. Zum prozeduralen oder auch mechanischen Gedächtnis gehören Fähigkeiten wie Rad- oder Skifahren, Saxophon- oder Klavierspielen. Auch Lesen ist eine Fähigkeit des impliziten Gedächtnisses, wir wissen nicht, wie wir es machen, aber wir haben es mühsam erlernen müssen.
Das als Priming Gedächtnis (erleichtertes Lernen, Bahnung) bezeichnete Gedächtnissystem, das bereits bei Kleinkindern ausgebildet ist, könnte man in Ermangelung eines deutschen Wortes so beschreiben: Hat man das Prinzip erst einmal verstanden, lassen sich vergleichbare Aufgaben leichter lernen. Zu dieser Lernform gehört etwa die Einordnung von Erlebnissen aufgrund von früheren, vergleichbaren Ereignissen ebenso wie das schnelle Erkennen von Reizmustern, die man früher schon einmal wahrgenommen hat (Wahrnehmungsgedächtnis). Zu dieser Lern- und Gedächtnisform gehört auch der Umstand, dass wir unbewusst andere nachahmen - eine Tatsache, die wir uns gerade im Umgang mit Kindern vor Augen halten sollten. Kinder lernen mehr aus dem, was man ihnen vorlebt und was sie selbst erleben, als aus den Sachverhalten, die man ihnen explizit erklärt. So lernen sie etwa, sich gut bei Tisch zu benehmen oder dass man abends statt fernsehen auch lesen kann eher durch Nachahmung als durch Ermahnung. Verantwortlich für diese beim Menschen
außerordentlich stark ausgeprägte Form des Lernens durch Nachahmung sind sogenannte Spiegelneurone in der Großhirnrinde. Spiegelneurone sind Nervenzellen, die nicht nur aktiv sind, wenn man selbst eine Bewegung ausführt, sondern auch wenn unser Gegenüber die gleiche Bewegung macht und man selbst nur passiver Zuschauer ist. Dieses System scheint umso besser zu funktionieren, je vertrauter man mit einer Person ist und je mehr eine Person akzeptiert und als authentisch erlebt wird.
Eine der stärksten und schnellsten Lernformen ist ebenfalls Teil des impliziten Gedächtnisses: etwa die Konditionierung darauf, bestimmte Nahrungsmittel nicht mehr zu essen, die mit einem negativen Erlebnis (z. B. Erbrechen) verbunden sind. Ein Kind im dritten Lebensjahr wird sich noch nicht bewusst an ein solches Erlebnis erinnern, aber es kann sein, dass es, wenn ihm im Alter von eineinhalb Jahren einmal von Spinat schlecht geworden ist, nie wieder dieses Gemüse zu sich nehmen wird. Das Beispiel zeigt, wie gut und dauerhaft das implizite Gedächtnis bereits bei Kleinkindern ausgeprägt ist, während das explizite Gedächtnis noch von der kindlichen Amnesie betroffen ist. Zwar wird das Kind sich nicht an die Umstände erinnern können, die dazu geführt haben, dass es etwas nicht mag, da
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