Wie Kinder heute lernen
Lernsituationen als negativ ab. Dies erschwert nicht nur den Umgang mit lernenden Kindern, sondern führt auch dazu, dass neue Informationen in negativ besetzten Situationen schlechter abgespeichert werden.
Wie bereits ausgeführt, wirken am autobiografischen und dem Faktengedächtnis vor allem die Schläfenlappenspitze und die Stirnlappen mit, beide Bestandteile des Großhirns. Daneben ist der linke präfrontale Kortex am Faktengedächtnis beteiligt. Der rechte präfrontale Kortex dagegen ist für das Speichern und Abrufen von autobiografischen Erinnerungen verantwortlich. Für das explizite Gedächtnis sind aber auch tiefer gelegene Strukturen wichtig, etwa das basale Vorderhirn (Nucleus basalis) ( Abb. 6 ). Hier liegen Nervenzellen, die als Botenstoff Acetylcholin benutzen und weitläufig in die Großhirnrinde ziehen. Er ist im vorderen Teil des Gehirns gelegen, unterhalb der Großhirnrinde vor dem Thalamus und ist entscheidend daran beteiligt, dass positive Assoziationen das Lernen erleichtern. Das basale Vorderhirn ist die entscheidende Station des Belohnungssystems des Gehirns (siehe Kapitel 2.1, »Motivation und Konzentration«). Fatalerweise ist es ausgerechnet diese für das Gedächtnis so wichtige Region, die bei Alzheimer-Patienten als eine der Ersten geschädigt wird.
Das Kleinhirn mit den Basalganglien (große Gehirnareale, die sich unterhalb der vorderen Großhirnrinde befinden) ist hauptsächlich für motorische Lernvorgänge verantwortlich ( Abb. 5 ). Die Tatsache, dass verschiedene Gedächtnissysteme an verschiedene Gehirnareale gebunden sind, erklärt auch, warum manche Kinder eine bestimmte Gedächtnisleistung sehr gut beherrschen, in anderen aber ein weniger gut ausgeprägtes Leistungsvermögen zeigen. So kommt es, dass manche Kinder sehr gut Bewegungsabläufe lernen oder sehr gut visuelle Zusammenhänge erinnern können, während ihr Namens- oder Zahlengedächtnis nicht so gut funktioniert. Hier gilt es, durch Übung den Gehirnstrukturen auf die Sprünge zu helfen, die weniger stark ausgebildet sind. Das ist durchaus realistisch, wie Studien an Musikern bewiesen haben. So ist beispielsweise in den Gehirnen von Geigern und Gitarrespielern ein vergrößerter Bereich in den Gehirngebieten zu erkennen, die motorische und Tastempfindungen der linken Hand verarbeiten, welche beim Spielen des Instruments besonders genau greifen muss. Es konnte gezeigt werden, dass dies ein Trainingseffekt ist und nicht eine angeborene Gehirneigenschaft. Trainieren und Üben können also auch nach der Geburt noch zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen.
Dieses und andere Beispiele belegen, dass fast jede Nervenzelle im Gehirn darauf programmiert ist zu lernen und sich entsprechend verändern kann. Die erfahrungsabhängige Umorganisation von Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen bezeichnet man als Neuroplastizität. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit der Nervenzellen, neue Verbindungen zu knüpfen oder zu trennen bzw. bestehende zu stärken oder zu schwächen. Mit anderen Worten: Indem neue Informationen gespeichert werden, werden die Verbindungen zwischen den Nervenzellen beständig umgeformt, und entsprechend verändert sich auch das Gehirn. Bis zu einem gewissen Grad kann Übung also weniger stark ausgebildete Gehirnareale positiv verstärken und manchmal sogar ihre Verarbeitungskapazität steigern. Letzteres setzt allerdings ein
intensives Üben voraus. Wenn einem Kind dieses auf Gebieten abverlangt wird, auf denen es sich eher schwertut, gilt es dabei behutsam vorzugehen. Wer beschäftigt sich schon gerne stundenlang mit Dingen, die ihm schwerfallen und an denen er kein besonderes Vergnügen hat? Es ist also ratsam, beim Lernen von wenig geliebten Fächern schnell erreichbare Zwischenziele einzubauen und die Übungszeiten schrittweise auszudehnen. In der Lernabfolge zwischen »gemochten« und »gehassten« Fächern zu variieren, ist ebenfalls hilfreich.
Von den Vorteilen des Vergessens
1920 kam Herr S. in die Sprechstunde von Alexander Luria, einem berühmten Neurologen. Herr S. konnte schon in der ersten Sitzung eine einmal präsentierte Liste mit 70 Zahlen in beliebiger Reihenfolge wiederholen, mehr hatte Luria wegen eigener Übermüdung nicht testen können. S. war Synästhetiker - er hatte eine Vielzahl von sensorischen Erlebnissen, wenn er Wörter und Zahlen hörte oder sah. So konnte er 50 oder mehr Zahlen wiederholen, indem er in seinem Gedächtnis einfach das Tafelbild abrief. Neben
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