Wie Kinder heute lernen
genetische Mitgift der Eltern. So lässt sich eine der Kerneigenschaften schulischen Erfolgs in der Tat durch Training und Lernstrategien positiv beeinflussen.
Kindliche Amnesie
Was ist Ihre erste Erinnerung? Die wenigsten Menschen können sich an Dinge erinnern, die vor dem dritten, vierten Geburtstag stattgefunden haben. Erst ab dem Alter von fünf, sechs Jahren werden die Erinnerungen reichhaltiger und häufiger. Man bezeichnet dies als infantile Amnesie - also die fehlende Erinnerungsfähigkeit an die frühe Kindheit. Auf der anderen Seite weiß jeder, der Umgang mit Kleinkindern hat, wie gut deren Gedächtnis ist, insbesondere wenn es um das Wiedererkennungsgedächtnis geht wie beim Memoryspielen. Insofern sind die Ergebnisse neuester Untersuchungen an ungeborenen und neugeborenen
Kindern umso überraschender: Schon Föten, bei denen sich als Erstes das sensomotorische Lernen entwickelt, können Informationen über ihre Erfahrungen speichern. Auch die Gewöhnung (Habituation), eine spezielle Form einfachen Lernens, bildet sich bereits sehr früh aus. Wie Untersuchungen zeigen, erschrecken Föten, sobald ihr Gehör funktionsfähig ist, bei lauten Geräuschen. Man hat aber herausgefunden, dass sie sich bei Wiederholung sehr schnell an die Störung gewöhnen. Diese Gewöhnung ist eine sehr wichtige Lernform, sie hilft, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen, und zwar nicht nur für den Fötus, sondern ein Leben lang. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden ist eine der elementarsten Eigenschaften des menschlichen Gedächtnisses überhaupt.
Darüber hinaus verblüffen uns bereits kleinste Kinder mit ihrer Merkfähigkeit. Wie aber kann es dann sein, dass wir uns nicht an die ersten drei Jahre unseres Lebens erinnern können? Dieser Umstand scheint auf den ersten Blick eine der zentralen Aussagen Sigmund Freuds zu bestätigen, der die Ansicht vertrat, dass frühkindliche Erfahrungen zwar gespeichert werden, doch der Zugriff darauf aus Gründen der Verdrängung im späteren Leben verweigert wird. Trotzdem sollen diese Erinnerungen maßgeblich unsere Persönlichkeit beeinflussen laut Freud. Aus heutiger neurobiologischer Sicht muss man hier eine Einschränkung machen: Mit Verdrängung hat die kindliche Amnesie nichts zu tun. Mit Hilfe moderner neurowissenschaftlicher Methoden konnte nämlich gezeigt werden, dass die Regionen zum Abspeichern autobiografischer Erinnerungen vor dem dritten Lebensjahr noch gar nicht funktionell in die Schaltkreise des Gehirns integriert sind. Somit ist der Gedanke, dass alle unsere autobiografischen Erinnerungen lebenslang in unseren Gehirnen abgelegt sind und es nur beim Abrufen klemmt, zwar verführerisch, aber eben auch falsch. Was jedoch nicht bedeutet, dass frühkindliche Gehirne keine Informationen speichern können. Jeder geistige und motorische Fortschritt hängt von der Fähigkeit des
Gehirns ab, Erfahrungen abzuspeichern und diese Informationen bei Bedarf wieder hervorzuholen, um aufgrund der erworbenen Kenntnisse effizienter und klüger zu handeln. Das Gedächtnis ist somit der Eckstein der intellektuellen Reifung. Nur dass wir uns nicht immer erinnern können, wo wir etwas gelernt haben. Manchmal wissen wir nicht einmal, dass wir etwas gelernt haben. Und dennoch wird unser Handeln von unbewusst Gelerntem beeinflusst. Insofern hat der gute Sigmund Freud indirekt dann doch recht behalten.
Abbildung 4 : »Das« Gedächtnis gibt es nicht
Dargestellt sind die vier Gedächtnissysteme des menschlichen Gehirns und die ihnen zugeordneten Gehirnstrukturen. Das implizite Gedächtnis macht wahrscheinlich einen sehr großen Teil der Informationsspeicher in unserem Gehirn aus.
»Das« Gedächtnis gibt es nicht
Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus Psychologie und Neurowissenschaft ist, dass »das« Gedächtnis nicht existiert. Vielmehr gibt es verschiedene Gedächtnissysteme, die sich nach zeitlichen oder funktionellen Kriterien unterteilen lassen. Ihnen allen gemeinsam ist, das Vergangene in unserem Nervensystem festzuhalten.
Im Kontext der verschiedenen Gedächtnissysteme unterscheidet man zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis ( Abb. 4 ). Unter explizitem oder auch deklarativem Gedächtnis versteht man alles, was man in Worten ausdrücken kann, wie Erinnerungen an einen Urlaub oder Faktenwissen (mathematische Formeln, Namen von Hauptstädten, Tier- und Pflanzennamen etc.). Das implizite Gedächtnis dagegen speichert gelernte Bewegungsabläufe (prozedurales
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