Wie kommt das Salz ins Meer
den Schlüssel nicht sofort gefunden, da hat er mit seinem Stiefel gleich die Tür eingetreten.
Großmutter hat eine Schatulle, in der zuoberst ein Zettel liegt. Alle meine besonderen Briefe: Mit Andacht zu lesen, dann erst verbrennen. Ich habe nichts gefunden als einige Kassenblöcke aus der Kaffeehauszeit, darunter Großvaters Kurrentschrift, fast nicht mehr entzifferbar, er benützte einen harten violetten Bleistift. Schreibt, daß er sich für irgend etwas entschuldigen möchte, weil er Großmutter noch braucht. Ein Brief, den ich ans Christkind geschrieben habe und in dem ich so tue, als wünschte ich mir ein Schutzengelbild. Das habe ich doch nur geschrieben, um auf Großmutter einen guten Eindruck zu machen, weil ich oft hörte, wie sie meine Eltern überreden wollte, mich in ein Klosterinternat zu stecken. Liebes Christkind, schrieb ich, bitte, wenn Du einmal nach Linz kommst, nimm meine große Puppe mit zum Puppendoktor. Ein Schutzengerlbild würde mich sehr erfreuen, wenn es über dem Bett hänge. Stille Nacht, Heilige Nacht, schrieb ich noch dazu und klebte ein pastellfarbiges Bild von der Heiligen Familie auf der Flucht vor Herodes aufs Kuvert. Mit Puppen spielte ich nicht gern, die gingen alle irgendwie kaputt. Wenn ich wieder einmal Puppen zerlegte, sagte Großmutter: Sie ist kein Mädchen. Also schrieb ich das mit dem Puppendoktor, und das ganze Christkind hatte ich auch längst durchs Schlüsselloch gesehen, auch den richtigen Storch in den verbotenen Büchern aus der Ordination, aber auf Großmutter machte mein Brief einen großen Eindruck, und auch auf mich. Viel lieber hätte ich mir kurze Haare gewünscht, aber ich mußte Zöpfe tragen, weil meine Mutter als Kind so gern lange Haare gehabt hätte, und die Prügelmutter schnitt ihr jeden Monat wieder alles weg, was nachgewachsen war.
Andere Briefe sind aus Sizilien. Von Amalie, Großmutters Freundin aus der Volksschulzeit. Amalie war das Kind einer Steiermärkerin und eines italienischen Gastarbeiters. Sie wurde nach Sizilien geschickt, um im Haushalt eines Grundbesitzers die Wirtschaft zu führen. Der Grundbesitzer und seine Frau waren miteinander unfruchtbar, also machte er der Wirtschafterin drei Kinder. Als die Frau starb, heiratete er die Wirtschafterin, um seine Kinder als Erben einsetzen zu können. Und starb sofort. Die Kinder erbten und behielten die Mutter als Wirtschafterin. Großmutter findet, daß das ein Skandal ist. Sie fährt jedes Jahr nach Sizilien, um die Mali daran zu hindern, wieder irgendwelche Erklärungen zu unterschreiben, die man ihr hinlegt, während man ihre Brille versteckt.
Hast du schon wieder etwas unterschrieben? fragt Großmutter gleich bei der Ankunft, und die Amalie leugnet zuerst, dann gesteht sie. Großmutter schaut überall nach, um Beweise zu finden. Aber die Söhne des Grundbesitzers sind Rechtsanwälte, und denen ist nie etwas nachzuweisen. Großmutter bringt auch die richtigen Medikamente für ihre Freundin mit, gegen Zucker, Wasser in den Füßen, gegen Gicht und Vitamintabletten für die vielen armen, dürren Hunde, die um das Haus streunen. Vater hat ein neues pharmazeutisches Präparat gegen Hirnverkalkung, das wollte er erproben, und er gab es Großmutter mit, als sie letztes Jahr nach Sizilien fuhr. Großmutter hat das ganze Präparat an die Hunde verfüttert, und Amalie hatte wieder einige Erklärungen unterschrieben, an die sich niemand erinnern wollte, sie konnte sich auch nicht erinnern, und die Hunde wurden immer frecher und gefräßiger, einmal fielen sie Großmutter an, als sie aus dem Haus ging, um die Signorine vom Tierschutzverein zu besuchen. Das war tragisch, hat Großmutter gesagt, und weil Vater bei ihrer Erzählung lachte, weil er einen guten Tag hatte, gerade zum Medizinalrat ernannt, das gab uns allen gute Laune, da sagte sie zu ihm: Du blöder Bub.
Es ist ja selten, daß Vater sich Großmutters Erzählungen anhört. Sie sind alle verwickelt und verästelt wie das Leben selbst. Kein Anfang und kein Ende. Vom Hundertsten ins Tausendste, immer den Faden verloren. Großmutter will ja nichts auslassen, was an Wesentlichem dazukommt, und am Schluß sitzt sie und fragt uns, ob wir wissen, was sie erzählen wollte.
Als wir noch Sonntagsfamilienausflüge machten, weil das Auto neu war und eine Seltenheit, da saß Großmutter vorne, Mutter und ich hinten, ich eng an Mutter gepreßt, weil Vater immer schneller fuhr, wenn Großmutter erzählte und erzählte, manchmal fuhr er sogar in
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