Wie Krähen im Nebel
handgeschriebene Speisekarte. In der Küche zischte es, und als Laura sich umdrehte, sah sie wie zwei dunkelhäutige junge Männer Fleischstücke in eine riesige Pfanne warfen. Neben ihnen stand eine ältere Frau, ein weißes Häubchen auf den Haaren, die Hände in die Hüften gestemmt, und nickte: «
Sì, sì!
Genau so macht man das! Sehr gut,
bravi!
»
«Das ist Rosa!», erklärte der Kellner Alberto. «Sie ist meine Tante und eine wunderbare Köchin. Wir arbeiten alle zusammen … eine große Familie!»
«Soso!», nickte Guerrini. «Gehören die beiden da drin auch zur Familie?»
«Aber natürlich, Signore!» Alberto runzelte leicht die Stirn und musterte Guerrini prüfend.
«Das ist schön. Ich hoffe, ihr behandelt sie gut … Was gibt’s denn zu essen?»
Alberto schien es für einen Augenblick die Sprache verschlagen zu haben, doch dann fasste er sich, lächelte und verschränkte die Hände vor der Brust.
«Ganz frisch eingelegte
sardine in saor
, eine Spezialität meiner Tante mit Zwiebeln, Wacholderbeeren und Rosinen. Fischsuppe, Fettucine in Tintenfischsugo, Seezunge,
fritto misto di pesce
… natürlich behandeln wir die beiden gut. Siesind freundlich und fleißig … gehören zur Familie wie wir alle!»
«Jaja, ist schon gut!» Guerrini verzog das Gesicht zu einem halben Lächeln. «Kam mir einfach so in den Sinn! Ich nehme die eingelegten Sardinen und die Seezunge mit Radicchio, und du?» Er sah Laura an.
«Ich auch.»
Alberto nickte, warf Guerrini einen zweiten prüfenden Blick zu, machte zwei Schritte Richtung Küche, kehrte aber gleich wieder um, verbeugte sich.
«Und was wünschen die Signori zu trinken?»
«Weißwein und Mineralwasser!», antwortete Laura.
Diesmal ging Alberto rückwärts zur Küche, verbeugte sich noch zweimal.
«Hast du immer noch den Menschenhändler-Blick?» Laura lehnte sich zurück und betrachtete Guerrini aus halb geschlossenen Augen. Es war wunderbar warm in dem kleinen Lokal, das Geklapper der Töpfe, das Gemurmel der anderen Gäste und die Essensdüfte machten Venedig wieder wirklicher – obwohl sie noch immer Mühe hatte zu begreifen, dass sie angekommen war, dass sie zum ersten Mal Zeit für diese Liebe hatte.
«Ich werde ihn wahrscheinlich nie wieder verlieren, den Menschenhändler-Blick!», erwiderte er leise.
Alberto stellte eine Karaffe Weißwein und eine Wasserflasche zwischen sie, schenkte ein. Der alte Mann an der Kasse nickte ihnen zu.
«Die halten dich wahrscheinlich für einen Polizisten, der illegale Einwanderer sucht. Deshalb überschlagen sie sich vor Höflichkeit!» Laura musste kichern, hob das Glas und prostete dem Alten zu, dann stieß sie mit Guerrini an, trank einen winzigen Schluck, ließ den herben Wein genüsslich über ihre Zunge gleiten.
«Es ist gar nicht so schlecht, wenn sie auf der Hut sind. Dann bekommen wir wenigstens ein ordentliches Essen. Die werden es nicht wagen, uns Touristenfraß vorzusetzen!»
«Hast du es deshalb gesagt?» Laura sah Guerrini ungläubig an.
«Na ja, sagen wir mal … es war zumindest einer der Gründe! Weißt du, ich war schon ziemlich oft in Venedig!» Guerrini machte ein ganz unschuldiges Gesicht, brach dann plötzlich in Gelächter aus, und Laura lachte mit, Alberto lachte und der Alte hinter der Kasse. Alles Schwere löste sich, und Laura nahm zum ersten Mal wahr, dass bunte glitzernde Girlanden die Decke des Lokals schmückten, Vorbereitung auf Silvester, das ja schon morgen war.
Die
sardine
in
saor
waren köstlich, und Laura war sich bewusst, dass sie noch nie auf so sinnliche Weise gegessen hatte. Jeder Bissen, den sie in den Mund schob, wurde auf seltsame Weise zum Austausch von Botschaften mit Guerrini – Botschaften der Lust, des Begehrens, der Freude. Es war ein Gespräch ohne Worte, das erst zu Ende ging, als sie ihr Besteck fortlegten, ihre Lippen mit den Servietten abtupften und sich wieder zuprosteten.
Und dann wurden sie beide ein bisschen verlegen, der Nähe wegen, in die sie sich gewagt hatten.
«Mir sind noch ein paar Dinge unklar, Angelo!», sagte Laura. «Ich habe immer noch nicht genau begriffen, warum dieser Bertolucci zum Mörder wurde.»
Guerrini runzelte ein wenig irritiert die Stirn, und Laura bereute ihre Frage schon. Das einfachste Mittel, Distanz herzustellen: reden über die Arbeit.
«Das glaube ich dir nicht!», sagte Guerrini. «Du mit deiner Fähigkeit, die Motive anderer zu ahnen, weißt ganz genau, was in Bertolucci vor sich ging. Warum
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