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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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kannte. Ganz selten verirrte sich ein Fremder in das schwach beleuchtete Stübchen, das außer nach Zigaretten nach schlechtem Essen und Bier roch. Die Wirtin gab sich Mühe, eine Art Wohnzimmer aus ihrer Kneipe zu machen – mit Spitzenvorhängen und Dekorationen, die mit den Jahreszeiten wechselten. Es gab Weihnachtsmänner, Engel, bunte Kugeln und künstlichen Schnee im Dezember, Plastikprimeln und Ostereier im März, künstliche Kornblumen und Mohn im Sommer, Plastikkürbisse und buntes Laub im Herbst.
    Auch das gab Rosl ein Gefühl von Familienzugehörigkeit. Zu Hause machte sie schon lange keine Anstrengungen mehr, was diese Dinge anging. Weil sie beinahe jede Nacht arbeitete und den halben Tag schlief, lohnte es sich ohnehin nicht. So ließ sich das Zusammenleben mit ihrer Mutter halbwegs aushalten, und bis auf ihre Anfälle von Fresssucht lebte Rosl in einem Zustand relativer Stabilität, empfand manchmal sogar so etwas wie Wohlbefinden, wenn sie eine bestimmteFernsehsendung sah, am liebsten «Die Kommissarin» oder «Rosa Rot» oder «Soko irgendwas», den genauen Namen vergaß sie immer. «Großstadtrevier» mochte sie auch. «Tatort» nicht so sehr, nur wenn eine Frau Kommissarin war.
    Rosl stellte sich nämlich immer vor, dass sie selbst Kommissarin wäre, und für eine Stunde oder länger war sie dann in Gedanken weit weg. Weg von ihrer ärmlichen Wohnung, die nach alter Frau muffelte. Zum Glück musste sie selten vor zehn arbeiten, deshalb konnte sie ihre Lieblingssendungen noch sehen, ehe ihre Nachtschicht begann. Erst putzte sie Büros und Banken, dann Züge. Rosl kam selten vor vier Uhr früh nach Hause – immer mit der ersten Trambahn oder dem ersten Bus.
    Letzte Nacht war sie schon um eins zu Hause gewesen. Erst ganz beruhigt, denn eigentlich konnte man sie nicht finden. Eigentlich. Aber je länger sie nachgedacht hatte, desto unsicherer war sie geworden. Zum Glück lagen noch ein paar Flaschen Bier im Kühlschrank!
    Rosl hatte sich hingesetzt, im Dunkeln, hatte den Stuhl ans Küchenfenster gerückt und in den Nebel hinausgestarrt. Dabei war ihr eingefallen, was alles schief gehen konnte. Noch etwas war ihr eingefallen. Und das war komisch gewesen, denn es kam erst allmählich in ihr Bewusstsein zurück, wie die mühsame Erinnerung an einen Traum, den man vergessen hat. Aber langsam wurde es immer deutlicher, und nach dem zweiten Bier war Rosl ganz sicher, dass sie sich nicht täuschte. Dann kam die Angst. In ihrem Kopf sausten die Gedanken durcheinander wie in einem Karussell. Sie musste die Finger gegen ihre Schläfen pressen, um sie anzuhalten, diese Gedanken.
    Ganz ruhig, dachte Rosl. Ganz ruhig jetzt. Du bist in den Zug eingestiegen und hast die Müllbehälter ausgeleert. Und wie du den Gang entlanggeschaut hast, war da einer ganzam andern Ende. Genau da, wo das Klo ist! Der hat was an der Tür gemacht, und dunkel angezogen war er. Fast wie ein Schaffner. Und deswegen hast du gedacht, dass es ein Schaffner war, und hast es gleich wieder vergessen. Aber vielleicht war er gar kein Schaffner, sondern der Mörder, und dann hättst du ihn gesehen und er dich.
    Sie war plötzlich ganz sicher, dass es der Mörder war. Zum Glück fand sie noch ein drittes Bier, das letzte. Vielleicht war er ihr nachgegangen, weil er wusste, dass sie ihn gesehen hatte. Vielleicht hatte er beobachtet, wie sie die Leiche entdeckte und wie sie weggelaufen war. Vielleicht war er mit in die Trambahn gestiegen und hatte gesehen, wie sie telefonierte. Vielleicht stand er unten vor dem Haus und wartete, dass jemand die Tür aufmachte. Und wenn jemand die Tür aufmachte, dann würde er reinkommen und die Treppe heraufsteigen.
    Er kann ja gar nicht wissen, in welcher Wohnung ich bin, dachte Rosl. Woher soll er das wissen?
    Das beruhigte sie ein bisschen. Aber nicht sehr. Allein die Vorstellung, dass er da draußen im Treppenhaus wartete, schnürte ihr die Kehle zu. Andererseits hätte er sie ja schon vorher schnappen können. Als sie von der Trambahn nach Hause ging, durch den Nebel. Keinem Menschen war sie begegnet und keiner hätte gehört, wenn sie um Hilfe geschrien hätte. Rosl erschauerte.
    Warum hatte er sie nicht überfallen? Weil er will, dass ich Angst habe, dachte Rosl. So war das. Die tote Frau hatte auch ausgesehen, als hätte sie Angst gehabt. Als könnte sie nicht glauben, was ihr passiert.
    So Menschen gibt’s, dachte Rosl. Die wollen, dass man Angst hat. Dann geht’s denen gut.
    Das kannte sie vom Fernsehen.

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