Wie Krähen im Nebel
Ich sitze auch auf meinem kleinen Balkon, der viel kleiner ist als deiner, und schau in die Nacht hinaus. Dann denke ich über mein Leben nach, was ich falsch und richtig gemacht habe und wo es hingehen könnte. Und manchmal genieße ich es, Commissario, und manchmal fühle ich mich sehr allein – trotz der Kinder und dem ganzen Gewurschtel! Und wenn ich eine Sternschnuppe sehe, dann wünsche ich mir auch etwas, du sentimentaler Trottel! Zum Beispiel, dass wir das neue Jahr gemeinsam feiern können, dass wir eine Woche für uns haben, um herauszufinden, ob wir uns geirrt haben oder nicht!»
Sie schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor neun. Sie musste los. Zu spät für die Waschmaschine und die Einkaufsliste. Ihren Vater würde sie vom Präsidium aus anrufen.
«Da siehst du’s!», sagte sie zu ihrem Spiegelbild, während sie schnell ihr Haar durchbürstete und Lippenstift auflegte. «Du hast keine Zeit für Affären, Laura Gottberg!»
Eine Stunde später saß Laura dem ersten Mitglied der italienischen Eurocity-Crew gegenüber. Es war der Kellner des Speisewagens, und er hatte nichts gehört oder gesehen. Das Foto der Toten musterte er mit entsetzten Augen. Ja, sie hatte Kaffee bei ihm bestellt – sonst nichts, nur Kaffee. Getrunken hatte sie ihn auch, den Kaffee. Ja, im Speisewagen. Nein, gesprochen hatte sie mit niemandem. Nach dem Kaffee hatte er sie nicht wieder gesehen.
Laura betrachtete den schmalen Mann mit dem dünnen Schnurrbart und der beinahe gelblichen Gesichtsfarbe. Wanndie Frau den Kaffee getrunken hätte, fragte sie. Er wand sich, seufzte, fuhr sich durch sein Haar und streckte ihr dann seine geöffneten Handflächen entgegen: «Ungefähr um neun Uhr, Signora Commissaria. Ungefähr. Wir hatten Verspätung, die Leute waren ungeduldig. Alle wollten gleichzeitig etwas essen und trinken! Da konnte ich nicht so auf die Einzelnen achten. Sie ist mir aufgefallen, weil sie rote Haare hatte und sehr hübsch war. Sie hat mich angelächelt, Commissaria. Das machen nicht alle Frauen! Es ist schrecklich, dass sie tot ist. Schade um diese Frau. So schade!»
«Ja!», sagte Laura. «Danke für Ihre Aussage. Sie können gehen.»
Der Nächste war ein Schaffner. Seine Mütze in der Hand, blieb er neben der Tür stehen; ein mittelgroßer Mann um die fünfzig, mit grauen Haaren und müdem Gesicht.
«Bitte setzen Sie sich doch!», sagte Laura.
«Wenn Sie meinen, Signora Commissaria …» Er verbeugte sich leicht, trat schüchtern näher und setzte sich sorgsam, als fürchte er, der Stuhl könnte unter ihm zusammenbrechen.
Laura lächelte. «Es wird nicht lange dauern, Signor Bertolucci. Der Name stimmt doch, oder?»
Er nickte, drehte die Mütze zwischen seinen Fingern, sah Laura nicht an.
«Ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun, müssen Sie wissen, und schon gar nicht im Ausland.»
«Es geht ja auch nicht um Sie, Signor Bertolucci. Es geht um die ermordete Frau, die leider in dem Eurocity gefunden wurde, in dem Sie Dienst hatten. Aber das wissen Sie ja bereits. Erinnern Sie sich an die Frau?» Laura reichte ihm das Foto.
Der Schaffner schaute nur kurz hin und gab es ihr sofort zurück.
«Ich dachte es mir», murmelte er.
«Was dachten Sie?»
«Ich dachte, dass sie es ist, als ich von dem Mord hörte.»
«Da habe ich gleich zwei Fragen: Wann und von wem haben Sie zum ersten Mal von dem Mord erfahren, und warum dachten Sie, dass es diese Frau sein könnte?»
Bertolucci blickte kurz in Lauras Augen; ihr fiel auf, dass seine beinahe schwarz waren, die Wimpern hellbraun. Eines seiner Lider zuckte ab und zu, dann presste er kurz den Daumen drauf.
«Von meinem Kollegen Fabio hab ich es erfahren. Fabio Castelli. Er ist auch Schaffner. Hat mich um halb acht geweckt und gesagt: Sergio, in unserem Zug ist jemand umgebracht worden. Wir müssen zur Polizei. Alle müssen wir zur Polizei!» Bertolucci nickte. «Er hat auch gesagt, dass wir unsere Ausweise mitnehmen sollen und dass wir heute nicht mit dem Eurocity zurückfahren werden, sondern erst, wenn wir alle ausgesagt haben. Stimmt das?»
Laura nickte und schrieb schnell den Namen Fabio Castelli auf einen Zettel.
«Und die zweite Frage? Sie schienen eben gar nicht überrascht, als Sie das Foto sahen.»
«Seltsam, nicht wahr? Sie müssen denken, dass ich mich sehr verdächtig benehme. Dabei kann ich Ihnen nicht einmal genau erklären, warum ich nicht überrascht war, Signora Commissaria. Es war nur so eine innere
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