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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Ruhe!», hörte er eine zweite Stimme. Ja, natürlich. Der Arzt. Ich kann wieder denken, dachte Brunner, und ich brauche keine Ruhe. Ich will wissen, was das für ein Geräusch war!
    «Gehen wir! Bitte, Frau Kommissarin.»
    Wieder der Arzt.
    «Noch nicht», sagte Brunner leise. «Es kommt gleich.»
    «Lassen Sie sich doch Zeit! Sie leiden an einer schweren Gehirnerschütterung und an Mehrfachbrüchen.» Die Stimme des Arztes klang irgendwie ungeduldig.
    Stefan Brunner öffnete die Augen und sah, wie die Frau langsam fortging.
    Es ist wichtig, dass sie es weiß, dachte er. Ich kann mir keine Zeit lassen. Wenn ich mir Zeit lasse, ist sie weg und weiß nicht, dass da noch einer war.
    «Da lief jemand», hörte er sich krächzen. «Ich hab Steine kollern gehört, Steine   …»
    Die Frau kehrte zu ihm zurück und legte eine Hand auf seinen gesunden Arm.
    «Danke», sagte sie.
    In diesem Augenblick wurde Brunner wieder von der Welle aus Schmerz und von den schwarzen Strudeln erfasst, und er konnte ihr nicht mehr antworten.
     
    Noch immer hing der Nebel schwer über der Stadt, als Laura Gottberg gegen halb sechs in die schmale Straße einbog, in der sie zu Hause war. Eine Straße mit grobem Kopfsteinpflaster, gesäumt von hohen alten Mietshäusern, die – bis aufeine Ausnahme – noch nicht luxussaniert waren. Obwohl die Straße nicht besonders lang war – höchstens 200   Meter   –, gab es noch zwei Tante-Emma-Läden, aber eine Tante Emma war Türkin und verkaufte nur Gemüse und türkische Spezialitäten. Die andere hatte auf wunderbare Weise das große Ladensterben überlebt. Mit geringsten Einnahmen hatte sie zäh durchgehalten, wohnte in zwei winzigen dunklen Zimmern hinter dem Geschäft und bot ihre Waren in einem wilden Durcheinander von Kartons und Regalen an. Häufig fand sie selbst nicht, was gewünscht wurde. Sie hieß Bachmeier, war ungefähr achtzig, verriet aber ihr genaues Alter nicht.
    Laura musste trotz ihrer Müdigkeit lächeln, als sie an dem altmodischen Ladenschild und den schiefen Rollos vorüberkam. Auf der Suche nach einem Parkplatz fiel ihr ein, wie Luca vor ein paar Jahren aufgeregt vom Sportplatz zurückkam und atemlos heraussprudelte, dass die alte Frau Bachmeier überfallen worden sei. «Auf den Kopf hat er sie gehauen!», berichtete Luca mit geweiteten Augen. «Ich hab gesehen, wie der Notarzt sie verbunden hat. Und die Kasse hat er mitgenommen – die ganze Kasse! Du musst ihr helfen, Mama! Du bist Kommissarin!»
    Seltsam, dachte Laura, Luca und Sofia waren immer geradezu unerschütterlich überzeugt davon gewesen, dass ihre Mutter die Welt wieder in Ordnung bringen würde, wenn etwas nicht stimmte. Wie alt war Luca damals gewesen? Zwölf oder dreizehn? Jetzt war er sechzehn und begann allmählich an dieser Überzeugung zu zweifeln, erkannte, dass niemand dazu in der Lage war. Ein Teil seiner zornigen Abwehr, die er in letzter Zeit zeigte, hatte sicher damit zu tun. Deshalb fand er es auch völlig überflüssig, nachts zu arbeiten. Manchmal schien er sogar daran zu zweifeln, ob es überhaupt sinnvoll war, Morde aufzuklären. «Die Leute sind doch sowieso tot!», sagte er. Aber er sagte es nie vor seiner Schwester Sofia, derenGerechtigkeitssinn leidenschaftlich war. Er sagte es nur zu Laura, beobachtete sie dabei genau, wartete beinahe genüsslich auf eine heftige Reaktion. Es kam auf Lauras Tagesform an, ob sie heftig oder mild reagierte   …
    Zum dritten Mal fuhr sie an Frau Bachmeiers Laden vorbei, beschloss, sich auf den Bürgersteig zu stellen und ihren Sonderausweis aufs Armaturenbrett zu legen. Das machte sie nur selten – der Nachbarn wegen. Mit Privilegien hat man sich bei anderen noch nie besonders beliebt gemacht.
    Drei Autos parkten bereits auf dem Bürgersteig. Laura klemmte ihren Mercedes dahinter, schaltete den Motor aus und blieb noch eine Minute sitzen, dachte an die 86   Treppenstufen und daran, dass sie in zwei Stunden wieder im Präsidium sein musste. Musste sie? Drei Stunden! Neun Uhr würde reichen. Nachdenken kann ich auch in der Badewanne.
    Dann raffte sie sich auf, stieg aus, atmete noch einmal prüfend ein. Noch immer roch es nach etwas sehr Giftigem, etwas, das Laura beinahe Übelkeit bereitete. Verkokeltes Plastik, dachte sie. Oder PVC.
    Sie schüttelte sich und prüfte noch einmal, ob sie den Wagen abgeschlossen hatte. Immerhin lag der blaue Müllsack mit den Kleidern des Unbekannten im Kofferraum. Endlich schlüpfte sie ins Haus, griff nach der

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