Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
brachte es mit sich, dass sie im Westen bis zum Ost-Berliner Nachdruck von 1953 praktisch vollkommen unbekannt blieben; einige seltene Exemplare erreichten gleichwohl die USA, und ab 1948 machte sich Roman Rosdolsky (1898–1965), der große Pionier der Grundrisse -Lektüre, der Auschwitz und verschiedene andere Konzentrationslager überlebt hatte und damals gerade in die USA gekommen war, an die Untersuchung des Werks. Schwer zu glauben ist indes, dass die deutschsprachige Originalausgabe ihre theoretischen und praktischen Ziele erreicht haben soll, wenn es heißt, man habe einen großen Teil der Auflage »als Agitationsmaterial gegen deutsche Soldaten an die Front geschickt und später als Schulungsmaterial für Kriegsgefangene in die Lager«. 1
Warum der vollständige Nachdruck der Ausgabe von 1939/41, der für die internationale Rezeption der Grundrisse zur editio princeps wurde, 1953 in Ost-Deutschland erschien, und zwar Jahre vor dem Beginn der Veröffentlichung der MEW und bewusst ohne Verbindung zu dieser Ausgabe, wissen wir nicht; es existieren lediglich ein paar plausible Fingerzeige. Bis auf eine Ausnahme hinterließ das Werk vor den 1960er Jahren in der Marx-Forschung keine ernsthaften Spuren. Diese Ausnahme bildet der Abschnitt über die »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn«, der erstmals 1938 separat auf Russisch erschien (wie auch, kurz zuvor schon, das »Kapitel vom Geld«) und 1947 ins Japanische übersetzt wurde; 1952 wurde die Schrift auf Deutsch veröffentlicht, sofort ins Ungarische, Japanische und Italienische übersetzt (1953/54) und natürlich von marxistischen Historikern in der englischsprachigen Welt diskutiert. Der englischen Übersetzung (1964) wurde eine erklärende Einleitung vorangestellt, schon bald darauf erschien die Schrift auf Spanisch in Argentinien und im Spanien Francos (1966/ 67). Auf besonderes Interesse stieß die Publikation bei marxistischen Historikern und Kulturanthropologen, was hilft, ihre weite Verbreitung lange vor der Verfügbarkeit der vollständigen Grundrisse zu erklären; spezifische Relevanz kam ihr zudem in der Auseinandersetzung um die marxistische Analyse von Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt zu. Und schließlich warf die Publikation ein Licht auf die Debatte um die »asiatische Produktionsweise«, eine Kontroverse, die im Westen durch Untersuchungen wie Karl August Wittfogels Orientalische Despotie (1957, dt. 1962) neu belebt worden war.
Die Rezeptionsgeschichte [4] der Manuskripte von 1857/58 setzt tatsächlich mit dem wichtigen Versuch ein, im Gefolge der Krise von 1956 den Marxismus von der Zwangsjacke der sowjetischen Orthodoxie zu befreien, und zwar gleichermaßen innerhalb wie außerhalb der nunmehr nicht länger monolithischen kommunistischen Parteien. Da sowohl die Schriften von 1844 als auch die Manuskripte von 1857/58 nicht Bestandteil des kanonischen Korpus der »Klassiker« waren, aber dennoch zweifelsfrei von Marx stammten, konnten diese Texte innerhalb der kommunistischen Parteien zur Grundlage einer legitimen Öffnung gegenüber bislang ausgeschlossenen Positionen werden. Die gleiche Funktion kam der beinahe gleichzeitigen internationalen Entdeckung der Schriften Antonio Gramscis zu – sie erschienen in der UdSSR erstmals in den Jahren 1957 bis 1959. Die Überzeugung, dass die Grundrisse das Potential besaßen, heterodoxe Positionen zu fördern, zeigte sich etwa im Auftauchen nicht offiziell autorisierter, eigenständiger Übersetzungen, wie sie die französischen Reformisten in den Éditions Anthropos (1968) oder Martin Nicolaus (1971) vorlegten, Letzterer unterstützt von der New Left Review . Außerhalb der kommunistischen Parteien hatten die Grun d risse die Funktion, einen nicht-kommunistischen, aber dennoch authentischen Marxismus zu begründen, doch erst in den 1960er Jahren, mit der Rebellion der Studenten, wurden solche Ansätze politisch bedeutsam; zugleich war die Tragweite der Manuskripte bereits in den 1950er Jahren erkannt worden, etwa in akademischen Kreisen in Deutschland, die der Frankfurter Tradition nahestanden, aber nicht dem Milieu des politischen Aktivismus angehörten, wie George Lichtheim oder der junge Jürgen Habermas. Die Radikalisierung der Studenten an den schnell wachsenden Universitäten sorgte schließlich für einen größeren Kreis interessierter Leser, als er in der Vergangenheit bei extrem schwierigen Texten wie diesem zu erwarten gewesen wäre. Doch allein deshalb wären
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