Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
keinen solchen Dissens geben.
Zweitens nun, und das ist einigermaßen überraschend, fand die gesamte Arbeit der Edition und Veröffentlichung der Grundrisse unter Bedingungen statt, die man getrost als einer originellen Weiterentwicklung der Marx-Forschung und des marxistischen Denkens wenig zuträglich ansehen kann, nämlich in der UdSSR und der DDR auf dem Höhepunkt der Epoche Stalins. Eine Veröffentlichung der Werke von Marx und Engels blieb auch später eine Angelegenheit, die vom Imprimatur der zuständigen politischen Dienststellen abhing, wie nicht zuletzt die Herausgeber fremdsprachiger Ausgaben dieser Werke häufig erfahren mussten. Es ist immer noch unklar, wie die Hindernisse, die der Publikation entgegenstanden, einschließlich der Säuberungen am Marx-Engels-Institut und der Entlassung und späteren Ermordung seines Gründers und Leiters Dawid Rjasanow, überwunden werden konnten oder wie Pawel Weller, der von 1925 bis 1939 mit der Editionsarbeit an dem Manuskript betraut war, den Terror der Jahre 1936 bis 1938 überlebte und seine Arbeit fortsetzen konnte. Hilfreich mag gewesen sein, dass die Behörden nicht so genau wussten, was sie mit diesem umfangreichen und schwierigen Text anfangen sollten. Sie hatten wohl eindeutig ihre Zweifel, was dessen genauen Stellenwert anbelangte, nicht zuletzt aufgrund von Stalins bekannter Haltung, dass handschriftlichen Entwürfen geringere Bedeutung zukomme als den drei Bänden des Kapitals , in denen sich Marx’ Standpunkt und Sichtweise in ihrer vollen Reife widerspiegelten. In einer russischen Übersetzung wurden die Grundrisse in vollem Umfang tatsächlich erst 1968/69 veröffentlicht, und weder die ursprüngliche deutschsprachige (Moskauer) Ausgabe der Jahre 1939 und 1941 noch der (Berliner) Nachdruck von 1953 wurde im Rahmen der unabgeschlossenen sowjetischen Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels publiziert, die man gemeinhin unter dem Akronym MEGA kennt (sie erschienen lediglich »im Format der MEGA«), ebenso wenig als Band der deutschen Ausgabe der Marx-Engels-Werke , der MEW. Gleichwohl erlebten die Grundrisse , im Gegensatz zu den Frühschriften von 1844, die nach ihrer Erstveröffentlichung in der MEGA (1932) wieder aus dem offiziellen Marxkorpus verschwanden, ihre Publikation in der UdSSR, und das auf dem Höhepunkt der Stalinzeit.
Die dritte Besonderheit ist die lange währende Ungewissheit über den Status der Manuskripte von 1857/58, die sich schon darin zeigt, dass die Edition im Marx-Engels-Lenin-Institut der 1930er Jahre wechselnde Bezeichnungen trug, bis sie schließlich, und zwar erst kurz vor Drucklegung, den Titel »Grundrisse« bekam. Die Art und Weise der Beziehung der Grundrisse zu den publizierten Bänden des Kapitals , wie sie Marx geschrieben und Engels rekonstruiert hat, sowie zum sogenannten vierten Band, den Theorien über den Mehrwert , erstmals von Karl Kautsky aus Marx’ Notizheften aus den Jahren 1861 bis 1863 zusammengestellt, bleibt tatsächlich ein Gegenstand weiterer Debatten. Kautsky, der die Manuskripte sichtete, scheint nicht gewusst zu haben, was er mit ihnen anfangen sollte. Er veröffentlichte zwei Auszüge in seiner Zeitschrift Die Neue Zeit , doch mehr auch nicht. Es waren dies das kurze Manuskript Bastiat und Carey (1904), das wenig Resonanz hervorrief, sowie die sogenannte Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie (1903), die niemals abgeschlossen wurde und deshalb 1859 nicht mit der Schrift gleichen Titels publiziert wurde. Die Einleitung sollte schon bald zu einem Text für diejenigen werden, die sich bemühten, in ihrer Interpretation des Marxismus über vorherrschende Orthodoxien hinauszugehen, wie insbesondere die Austro-Marxisten; bis heute ist sie vermutlich der weithin meistdiskutierte Teil der Grundrisse . Gleichwohl gibt es Stimmen, die eine Zugehörigkeit der beiden publizierten Entwürfe zu den Grundrissen grundsätzlich in Frage stellen. Der Rest der Manuskripte blieb indes unveröffentlicht und den Marxkommentatoren auch unbekannt, bis Rjasanow und seine Mitarbeiter in Moskau 1923 Ablichtungen davon bekamen, die sie einordneten und im Rahmen der MEGA zu publizieren planten. Es wäre interessant, Mutmaßungen darüber anzustellen, welche Wirkung es gehabt hätte, wenn die Grundrisse , wie ursprünglich vorgesehen, im Jahre 1931 erschienen wären. Der Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Publikation – Ende 1939 und eine Woche nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 – jedenfalls
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