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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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Jahrzehnt gab es die ersten ernsthaften Anzeichen, dass man sich auch im Ausland für Gramsci interessierte. Befördert wurde dieses Interesse zweifellos durch die Entstalinisierung und mehr noch durch die unabhängige Haltung, zu deren Sprachrohr sich Togliatti nach 1956 machte. In dieser Zeit finden sich jedenfalls die ersten englischsprachigen Auswahlbände seines Werkes und die ersten Diskussionen über seine Ideen außerhalb kommunistischer Parteien. Außerhalb Italiens entwickelten offenbar die englischsprachigen Länder als erste nachhaltiges Interesse an Gramsci. Paradoxerweise wurde in Italien selbst in dieser Dekade erstmals (zum Teil schrille) Kritik an Gramsci laut, und man stritt sich über die Interpretation seines Werkes von Seiten der KPI.
    In den 1970er Jahren erfuhr Gramsci schließlich endgültig die Anerkennung, die ihm gebührte. In Italien wurden seine Werke erstmals auf wissenschaftlich befriedigender Grundlage ediert: Es erschienen die vollständige Ausgabe der Lettere dal carcere (1965), verschiedene frühe und politische Schriften und vor allem Valentino Gerratanas Monument an Gelehrtheit, nämlich die Ausgabe der Gefängnishefte in chronologischer Reihenfolge (1975). Sowohl Gramscis Biographie als auch seine Rolle in der Geschichte der KPI wurden nun um einiges klarer, nicht zuletzt dank der systematischen historischen Aufarbeitung der eigenen Archivbestände, die von der KPI vorangetrieben und gefördert wurde. Die Diskussion hält bis heute an, doch es würde zu weit führen, die italienische Gramsci-Debatte seit Mitte der 1960er Jahre hier nachzuzeichnen. Im Ausland wurden Gramscis Schriften erstmals in angemessenen Auswahlbänden vorgelegt, insbesondere den beiden von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell-Smith bei Lawrence & Wishart herausgegebenen Bänden Selections from the Prison Notebooks of Antonio Gramsci (1971). Und auch wichtige Werke der Sekundärliteratur wie Giuseppe Fioris Vita di Antonio Gramsci erschienen in Übersetzung (englisch 1960). 1 Doch wir wollen an dieser Stelle gar nicht erst versuchen, die stetig wachsende Gramsci-Literatur in englischer Sprache – mit unterschiedlichen, aber allesamt respektablen Perspektiven auf Leben und Werk – ausführlicher vorzustellen, und begnügen uns deshalb mit dem Hinweis, dass es am 40. Todestag Gramscis keine Ausreden mehr gab, wenn man nichts über ihn wusste. Genauer gesagt: Er ist jetzt bekannt, sogar bei Leuten, die nichts von seinen Schriften gelesen haben. Typisch Gramsci’sche Begriffe wie »Hegemonie« tauchen in marxistischen wie nicht-marxistischen Diskussionen über Politik und Geschichte ebenso zwanglos (und in mitunter lockerer Verwendung) auf, wie das bei Freud’schen Termini in der Zwischenkriegszeit der Fall war. Gramsci ist zu einem Teil unseres geistigen Kosmos geworden. Seine Stellung als origineller marxistischer Denker – in meinen Augen der originellste Denker, den der Westen seit 1917 hervorgebracht hat – wird allgemein anerkannt. Doch was er gesagt hat und warum es wichtig ist, ist noch immer weniger allgemein anerkannt als die schlichte Tatsache, dass er wichtig ist. Ich werde mich im Folgenden auf einen Grund für seine Bedeutung konzentrieren: seine politische Theorie.
    Eine grundlegende Beobachtung des Marxismus lautet, dass Denker ihre Ideen nicht im abstrakten, luftleeren Raum erfinden, sondern sich nur im historischen und politischen Kontext ihrer Zeit verstehen lassen. Marx hat stets betont, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen – oder, wenn man so will, sich ihre eigenen Ideen ausdenken –, immer aber auch darauf hingewiesen, dass sie das nur tun können (um eine berühmte Passage aus dem Achtzehnten Brumaire zu zitieren) unter den Bedingungen, die sie unmittelbar vorfinden, unter Umständen, die gegeben und überliefert sind. Gramscis Denken ist ziemlich originell. Er ist Marxist und, ja, auch Leninist, und ich will gar keine Zeit damit vergeuden, ihn gegen die Vorwürfe verschiedener Sektierer zu verteidigen, die genau zu wissen glauben, was marxistisch ist und was nicht, und der Meinung sind, sie verfügten über das Copyright auf ihre Version des Marxismus. Für diejenigen unter uns jedoch, die in der klassischen Tradition des Marxismus groß wurden, sowohl vor 1914 als auch nach 1917, ist er oft ein ziemlich überraschender Marxist. So schrieb er beispielsweise relativ wenig über wirtschaftliche Entwicklungen und sehr viel über Politik, unter anderem über und in Kategorien

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