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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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andere dessen bewusst gewesen sein, was Gramsci als »Hegemonie« bezeichnete, also der Möglichkeiten, Autorität auszuüben, die nicht einfach auf Zwang beruhen.
    (5) Aus einer Reihe von Gründen – einige habe ich gerade genannt – war Italien somit eine Art Laboratorium für politische Erfahrungen. Es ist kein Zufall, dass das Land über eine lange, wirkmächtige Tradition politischen Denkens verfügt, die von Machiavelli im 16. Jahrhundert bis zu Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca Anfang des 20. Jahrhunderts reicht; selbst ausländische Pioniere dessen, was wir heute als politische Soziologie bezeichnen würden, waren mit Italien verbunden oder bezogen ihre Ideen aus italienischer Erfahrung – ich denke hier an Leute wie Georges Sorel und Robert Michels. Es überrascht also nicht wirklich, dass sich italienische Marxisten der politischen Theorie als eines Problems besonders bewusst waren.
    (6) Und schließlich noch eine sehr signifikante Tatsache: Italien war ein Land, in dem nach 1917 offenbar mehrere der objektiven und sogar die subjektiven Bedingungen für eine soziale Revolution gegeben waren – in stärkerem Maße als in Großbritannien und Frankreich und sogar, so würde ich behaupten, als in Deutschland. Doch zu dieser Revolution kam es nicht. Stattdessen kam der Faschismus an die Macht. Es war also nur natürlich, dass italienische Marxisten mit als erste analysierten, warum die russische Oktoberrevolution nicht auf westliche Länder übergesprungen war und wie die alternativen Strategien und Taktiken des Übergangs zum Sozialismus in diesen Ländern aussehen konnten. Daran arbeitete natürlich auch Gramsci.
    Damit bin ich bei meinem zentralen Punkt, nämlich dass Gramscis Hauptbeitrag zum Marxismus darin besteht, als einer der ersten eine marxistische Theorie der Politik vorgelegt zu haben. Denn Marx und Engels schrieben zwar jede Menge über Politik, waren jedoch eher zurückhaltend, wenn es darum ging, auf diesem Feld eine allgemeine Theorie zu entwickeln, weil sie es – wie Engels in den berühmten späten Briefen andeutete, in denen er die materialistische Geschichtsauffassung erläuterte – für wichtiger befanden zu zeigen, dass »Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln« ( Zur Kritik der Politischen Ökonomie , Vorwort). Und so betonten sie vor allem die »Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und die durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen« (Engels an Mehring, 14. Juli 1893). Insofern diskutieren Marx und Engels solche Dinge wie das Wesen und die Struktur von Herrschaft, die Verfassung und Organisation des Staates sowie die Natur und Organisation politischer Bewegungen überwiegend in Form von Beobachtungen, die sich aus dem Tagesgeschehen ergeben und im Allgemeinen in indirektem Zusammenhang mit anderen Argumenten stehen – außer vielleicht bei ihrer Theorie vom Ursprung und historischen Charakter des Staates. Lenin spürte (logischerweise am Vorabend der Machtübernahme), dass es einer systematischeren Theorie des Staates und der Revolution bedurfte, aber wie wir alle wissen, kam die Oktoberrevolution dazwischen, bevor er diese Theorie vollständig ausgearbeitet hatte. Und die intensive Debatte über die Struktur, Organisation und Führung sozialistischer Bewegungen, die sich zur Zeit der Zweiten Internationale entspann, drehte sich um praktische Fragen. Ihre theoretischen Verallgemeinerungen ergaben sich eher zufällig und spontan, außer vielleicht auf dem Feld der nationalen Frage, wo die Nachfolger von Marx und Engels quasi bei null anfangen mussten. Damit soll nicht gesagt sein, dass das nicht zu wichtigen theoretischen Neuerungen führte, wie das bei Lenin eindeutig der Fall war, aber diese Innovationen waren paradoxerweise, obwohl mit marxistischer Analyse unterfüttert, eher pragmatischer als theoretischer Natur. Wenn wir beispielsweise die Diskussionen über Lenins neue Konzeption der Partei lesen, überrascht, wie wenig marxistische Theorie Eingang in die Debatte findet, obwohl sich so bekannte Marxisten wie Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Georgi Plechanow, Leo Trotzki, Julius Martow und Dawid Rjasanow daran beteiligten. Eine Theorie der Politik war tatsächlich implizit darin enthalten, kristallisierte sich aber

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