Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
nur zum Teil heraus.
Für diese Lücke gibt es verschiedene Gründe. Jedenfalls schien sie bis Anfang der 1920er Jahre nicht wirklich zu stören. Dann jedoch wurde sie, so will ich behaupten, zu einer immer schwerer wiegenden Schwäche. Außerhalb Russlands war die Revolution gescheitert oder hatte überhaupt nicht stattgefunden, und so wurde eine systematische Neubewertung notwendig, nicht nur der Strategie, mit der die Bewegung an die Macht kommen wollte, sondern auch der technischen Fragen des Übergangs zum Sozialismus, die vor 1917 nie ernsthaft als konkretes und dringliches Problem gegolten hatten. Innerhalb der UdSSR stellte sich die Frage, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen würde und sollte, welche politische Struktur und welche Institutionen sie als »Zivilgesellschaft« haben sollte, wenn die Sowjetmacht ihren verzweifelten Behauptungskampf beendet hatte und dauerhaft gefestigt war. Dieses Problem hat im Grunde auch in den letzten Jahren die Marxisten beschäftigt, es war ein heftiger Streitpunkt zwischen sowjetischen Kommunisten, Maoisten und »Eurokommunisten«, von den außerhalb der kommunistischen Bewegung Stehenden ganz zu schweigen.
Ich möchte betonen, dass wir hier über zwei verschiedene Arten von politischen Problemen sprechen: einerseits strategische Fragen und andererseits die Frage nach der Wesensart sozialistischer Gesellschaften. Gramsci versuchte beide in Angriff zu nehmen, auch wenn sich einige Beobachter meiner Ansicht nach übermäßig nur auf einen dieser Bereiche konzentriert haben, nämlich den strategischen. Doch ganz unabhängig davon, welcher Art diese Probleme waren, wurde es schon bald – und blieb es für lange Zeit – unmöglich, sie innerhalb der kommunistischen Bewegung zu diskutieren. Man könnte sogar sagen: Gramsci konnte sie in seinen Schriften nur anpacken, weil er im Gefängnis saß, von der Politik draußen abgeschnitten war und nicht für die Gegenwart, sondern für die Zukunft schrieb.
Das heißt nicht, dass er nicht auch im Hinblick auf die aktuelle Situation der 1920er und frühen 1930er Jahre politisch schrieb. Eine der Schwierigkeiten, sein Werk zu verstehen, besteht denn auch darin, dass er eine Vertrautheit mit Situationen und Diskussionen voraussetzte, die den meisten von uns heute unbekannt oder völlig vergessen sind. Perry Anderson hat uns jüngst daran erinnert, dass einige seiner charakteristischsten Gedanken Themen aufgreifen und weiterentwickeln, die in den Komintern-Diskussionen Anfang der 1920er Jahre auftauchten. Jedenfalls war er gewillt, die Elemente einer vollständigen politischen Theorie innerhalb des Marxismus zu entwickeln, und er war vermutlich der erste Marxist, der das tat. Ich will seine Ideen nicht überblicksartig darstellen, sondern ein paar wenige Stränge herausgreifen und deutlich machen, was mir an ihnen so bedeutsam erscheint.
Gramsci ist insofern ein politischer Theoretiker, als er Politik als »autonome Tätigkeit« ( Gefängnishefte , S. 1574) begreift, innerhalb des Kontexts und der Grenzen, die von der historischen Entwicklung gesetzt sind, und ganz spezifisch danach fragt, welchen Platz »die politische Tätigkeit in einer systematischen (kohärenten und konsequenten) Weltauffassung, in einer Philosophie der Praxis einnehmen muss« ( Gefängnishefte , S. 978). Das bedeutet freilich mehr, als dass er nur die Art von Diskussionen in den Marxismus einführte, die sich in den Werken seines Hausheiligen Machiavelli finden – eines Mannes, der in den Schriften von Marx und Engels nicht besonders oft auftaucht. Die Politik ist für ihn nicht nur der Kern der Strategie, mit der der Sozialismus siegt, sondern Kern des Sozialismus selbst. Sie ist für ihn, wie Hoare und Nowell-Smith in ihrer Einleitung zu den Prison Notebooks zu Recht betonen, »die zentrale menschliche Tätigkeit, das Mittel, durch welches das Bewusstsein des Einzelnen mit der sozialen und natürlichen Welt in all ihren Ausformungen in Kontakt gebracht wird«. Kurz: Der Begriff der Politik ist viel weiter gefasst als in seiner üblichen Verwendung. Weiter sogar als die »Politische Wissenschaft und Kunst« in Gramscis eigenem, engeren Sinne, die er definiert als »ein Ensemble praktischer Forschungsregeln und einzelner Beobachtungen, die nützlich sind, um für die tatsächliche Wirklichkeit Interesse zu wecken und ausgeprägtere und energischere politische Intuitionen hervorzurufen« ( Gefängnishefte , S. 1540). Der Begriff der Politik ist zum
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