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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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von Theoretikern wie Benedetto Croce, Georges Sorel und Niccolò Machiavelli, die in den klassischen Schriften üblicherweise nur am Rande oder gar nicht auftauchen. Es gilt deshalb herauszufinden, inwiefern sich diese Originalität mit seinem Hintergrund und seiner historischen Erfahrung erklären lässt. Wobei ich nicht extra betonen muss, dass das an seiner intellektuellen Statur überhaupt nichts ändert.
    Als Gramsci von Mussolini ins Gefängnis geworfen wurde, stand er an der Spitze der Kommunistischen Partei Italiens (KPI). Nun wies Italien zu Gramscis Zeiten eine ganze Reihe historischer Besonderheiten auf, die originelle Ausformungen marxistischen Denkens begünstigten. Einige dieser Besonderheiten seien kurz erwähnt.
    (1) Italien war eine Art Mikrokosmos des Weltkapitalismus, und zwar insofern, als in einem einzigen Land sowohl Metropole als auch Kolonie, fortgeschrittene und rückständige Regionen zu finden waren. Sardinien, von wo Gramsci stammte, stand dabei für die rückständige, um nicht zu sagen archaische, und semikoloniale Seite Italiens; Turin mit den Fiat-Werken hingegen, wo er zu einem Anführer der Arbeiterklasse wurde, verkörperte damals wie heute beispielhaft die fortgeschrittenste Stufe des Industriekapitalismus und die massenhafte Verwandlung zugezogener Bauern in Arbeiter. Anders ausgedrückt: Ein intelligenter italienischer Marxist war in der ungewöhnlich guten Position, sowohl die entwickelte kapitalistische Welt als auch die »Dritte Welt« sowie deren Interaktionen hautnah zu erleben, was Marxisten aus Ländern, die entweder der einen oder der anderen Welt angehörten, nicht vergönnt war. Es wäre deshalb falsch, Gramsci schlicht als Theoretiker des »westlichen Kommunismus« zu begreifen. Sein Denken war weder ausschließlich auf industriell entwickelte Länder zugeschnitten noch ausschließlich auf sie anwendbar.
    (2) Eine wichtige Konsequenz aus Italiens historischer Besonderheit war, dass die italienische Arbeiterbewegung selbst vor 1914 sowohl industriell wie agrarisch war, dass sie sich auf Proletarier wie auf Bauern stützte. In dieser Hinsicht stand sie vor 1914 in Europa weitgehend alleine da, auch wenn hier nicht der Ort ist, um näher darauf einzugehen. Zwei simple Beispiele sollen aber kurz illustrieren, wie wichtig dieser Aspekt ist. Die Gegenden, in denen der kommunistische Einfluss am größten ist (Emilia Romagna, Toskana, Umbrien), sind keine Industrieregionen, und die berühmte Führungsfigur der italienischen Gewerkschaftsbewegung nach dem Krieg, Giuseppe Di Vittorio, stammte aus dem Süden und war Landarbeiter. Nicht ganz so allein stand Italien mit der ungewöhnlich bedeutsamen Rolle, die Intellektuelle in seiner Gewerkschaftsbewegung spielten – auch sie stammten überwiegend aus dem rückständigen und halbkolonialen Süden. Dieses Phänomen spielt in Gramscis Denken eine wichtige Rolle.
    (3) Dritte Besonderheit ist Italiens spezielle Geschichte als Nation und bürgerliche Gesellschaft. Dabei sei vor allem an drei Dinge erinnert: (a) Italien war mehrere Jahrhunderte vor anderen Ländern Vorreiter in Sachen moderner Zivilisation und Kapitalismus, konnte diese Stellung jedoch nicht behaupten und geriet zwischen Renaissance und Risorgimento aufs Abstellgleis; (b) anders als in Frankreich schuf das Bürgertum seine Gesellschaft nicht mittels einer siegreichen Revolution, und anders als in Deutschland akzeptierte es keine Kompromisslösung, die ihm von einer alten herrschenden Klasse von oben herab angeboten wurde. Es kam zu einer Teilrevolution: Italiens Einheit wurde teils von oben – durch Camillo Benso von Cavour –, teils von unten – durch Giuseppe Garibaldi – begründet; (c) das Bürgertum erfüllte also in gewisser Weise nicht seinen historischen Auftrag, die italienische Nation zu schaffen. Seine Revolution blieb unvollständig, und italienische Sozialisten wie Gramsci waren sich deshalb der möglichen Rolle ihrer Bewegung als potentielle Anführer der Nation, als Träger der nationalen Geschichte besonders bewusst.
    (4) Italien war (und ist) nicht nur ein katholisches Land wie viele andere auch, sondern ein Land, in dem die Kirche eine spezifisch italienische Institution war, ein Modus, um die Herrschaft der herrschenden Klassen auch ohne – und getrennt vom – Staatsapparat aufrechtzuerhalten. Es war zudem ein Land, in dem dem Nationalstaat eine nationale Elitenkultur voranging. Ein italienischer Marxist dürfte sich deshalb stärker als

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