Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
die sich im alten Stil entwickelt hatten.
In diesem Zusammenhang ist Gramscis Betonung der »organischen« Beziehung zwischen Revolutionären und Massenbewegungen von Bedeutung. Aus der historischen Erfahrung Italiens waren ihm revolutionäre Minderheiten vertraut, die kein solch »organisches« Verhältnis hatten, sondern bei denen es sich um Gruppen von »Freiwilligen« handelte, die, wo und wann immer sie konnten, »›Massen‹-Parteien« mobilisierten, »die in Wirklichkeit keine solche waren (also keine homogenen gesellschaftlichen Gruppen organisierten), sondern Zigeuner- und Nomadenlager der Politik« ( Gefängnishefte , S. 1597). Selbst heute noch – und vielleicht heute im Besonderen – basiert linke Politik zu einem Gutteil in gleicher Weise und aus ähnlichen Gründen nicht auf der wirklichen Arbeiterklasse mit ihrer Massenorganisation, sondern auf einer abstrakten Arbeiterklasse, auf einer Art Außensicht auf die Arbeiterklasse oder eine andere mobilisierbare Gruppe. Die Originalität Gramscis besteht darin, dass er ein Revolutionär war, der dieser Versuchung nie erlag. Grundlage seiner Analyse und Strategie war die organisierte Arbeiterklasse, so wie sie war, und nicht, wie sie theoretisch sein sollte.
Doch Gramscis politisches Denken war, wie schon mehrfach betont, nicht nur strategischer, instrumenteller oder operativer Natur. Sein Ziel war nicht einfach der Sieg, nach dem eine andere Ordnung und Art der Analyse beginnt. Immer wieder greift er irgendein historisches Problem oder Ereignis auf und kommt davon ausgehend zu Generalisierungen, nicht nur über die Politik der herrschenden Klasse oder ähnlicher Situationen, sondern über die Politik ganz allgemein . Deshalb ist er sich stets bewusst, dass den politischen Beziehungen zwischen Menschen in allen oder zumindest in einer historisch großen Vielfalt von Gesellschaften etwas gemeinsam ist – etwa, woran er besonders gern erinnerte, der Unterschied zwischen Führern und Geführten. Er verlor nie aus dem Blick, dass Gesellschaften mehr sind als Strukturen ökonomischer Herrschaft und politischer Macht, dass sie einen ganz bestimmten »Kitt« haben, selbst wenn sie von Klassenkämpfen zerrissen sind (worauf Engels schon viel früher hingewiesen hatte), und dass die Befreiung von Ausbeutung die Chance bietet, sie als echte Gemeinschaften freier Menschen zu konstituieren. Er vergaß niemals, dass Verantwortung für eine Gesellschaft zu übernehmen – für eine bestehende wie für eine potentielle – mehr bedeutet, als sich um unmittelbare Klassen- oder Gruppen- oder auch Staatsinteressen zu kümmern: dass das beispielsweise »›Kontinuität‹ sowohl mit der Vergangenheit oder der Tradition als auch mit der Zukunft« ( Gefängnishefte , S. 1715) voraussetzt. Deshalb beharrt Gramsci auf der Revolution nicht einfach als Expropriation der Expropriateure, sondern auch – im Falle Italiens – als Schaffung eines Volkes, als Verwirklichung einer Nation – als Negation und gleichzeitig Erfüllung der Vergangenheit. Gramscis Schriften werfen denn auch die höchst bedeutsame – und selten diskutierte – Frage auf, was genau in der Vergangenheit durch Revolutionen revolutioniert wurde und was warum und auf welche Weise bewahrt wird – das Problem der Dialektik von Kontinuität und Revolution.
Selbstverständlich ist das für Gramsci nicht als solches von Bedeutung, sondern als Mittel zur Mobilisierung des Volkes wie zur Selbsttransformation, als Mittel geistigen und moralischen Wandels, als Instrument kollektiver Selbstentfaltung als Teil des Prozesses, durch den ein Volk sich in seinen Kämpfen unter Führung der neuen Hegemonialklasse und ihrer Bewegung verändert und selbst erschafft. Zwar teilt Gramsci das übliche marxistische Misstrauen gegenüber Spekulationen über die sozialistische Zukunft, doch anders als die meisten sucht er Hinweise darauf, wie diese Zukunft aussehen könnte, im Charakter dieser Bewegung selbst. Wenn er ihr Wesen, ihre Struktur und Entwicklung als politische Bewegung, als Partei so ausgiebig und detailliert analysiert, wenn er beispielsweise der Entstehung einer dauerhaften und organisierten Bewegung – im Gegensatz zu einer plötzlichen »Explosion« – bis in die kleinsten Kapillaren und Molekularelemente (wie er es nennt) nachspürt, dann tut er das deshalb, weil die künftige Gesellschaft für ihn auf dem beruht, war er als die »Formierung eines national-popularen Kollektivwillens« ( Gefängnishefte , S. 957)
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