Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Sieg. Diese Ermahnung sollten wir beachten. Und ein bedeutender marxistischer Denker, der die Politik in den Mittelpunkt seiner Analyse stellte, hat es deshalb heute besonders verdient, dass wir ihn lesen, beachten und in uns weiterwirken lassen.
13 DER MARXISMUS AUF DEM RÜCKZUG 1983–2000
100 Jahre nach dem Tod von Karl Marx wurde offenkundig, dass sich der Marxismus politisch wie intellektuell deutlich auf dem Rückzug befand, und daran änderte sich auch in den anschließenden 25 Jahren nichts, selbst wenn es ganz am Ende des Jahrhunderts ein paar Hinweise auf ein mögliches »Comeback« gab, paradoxerweise am deutlichsten unter Beobachtern der Wirtschafts- und Unternehmenswelt wie etwa John Cassidy vom New Yorker , der an Marx’ Prophezeiungen einer immer weniger kontrollierbaren Globalisierung der kapitalistischen Ökonomie erinnerte. Gleichwohl kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass Marx seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr als »zeitgemäßer«, für heutige Zeiten relevanter Denker gilt, und in weiten Teilen der Welt reduzierte sich der Marxismus auf wenig mehr als das Gedankengut eines langsam schwindenden Korps von Überlebenden mittleren oder fortgeschritteneren Alters. Als 2004 endlich der letzte Band der auf 50 Bände angelegten und seit den 1970er Jahren in Arbeit befindlichen Übersetzung der Collected Works von Marx und Engels erschien, war das Schweigen groß. Ein weiteres Großprojekt der 1970er Jahre, die auf 122 Bände angelegte neue Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), also die vollständige Edition jedes von Marx und Engels niedergeschriebenen Wortes, kam weiter voran und beschleunigte sich sogar. Es fand allerdings so gut wie keine Aufmerksamkeit, außer vielleicht als Fallstudie für intellektuelle Kontinuität, nämlich von einem Unternehmen, das von kommunistischen Regimen geplant und finanziert worden war, hin zu einem internationalen akademischen Unterfangen, dessen politische und ideologische Implikationen, sofern es solche überhaupt noch gab, in der Schwebe blieben.
Auf den ersten Blick scheinen die Gründe dieses dramatischen Rückschlags für Marx und den Marxismus auf der Hand zu liegen. Die politischen Regime, die offiziell mit beiden in Zusammenhang gebracht wurden, befanden sich in den 1980er Jahren in Europa sichtlich in der Krise und hatten in China ihren Kurs radikal verändert. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer europäischen Satellitenstaaten riss unweigerlich den »Marxismus-Leninismus« mit sich, der zu ihrer Staatsreligion geworden war und dessen Dogmen von einer politischen Obrigkeit verkündet wurden, die offiziell die Deutungshoheit über Theorie und Tatsachen für sich beanspruchte. An sich hätte das nicht unbedingt Auswirkungen auf das marxistische Denken außerhalb dieser Region haben müssen, die sich selbst als »real existierender Sozialismus« bezeichnete, denn die Zeiten waren lang vorbei, da Stalins Kurzer Lehrgang allgemein als Standardkompendium des »dialektischen und historischen Materialismus« beziehungsweise der Geschichte der bolschewistischen Partei akzeptiert worden war. Die dogmatische sowjetische Orthodoxie schloss jedenfalls jede wirklich marxistische Analyse dessen, was in der sowjetischen Gesellschaft geschehen war und geschah, aus. Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, kritisierte das marxistische Denken in nicht-staatlichen kommunistischen Parteien diese Orthodoxie seit 1956, entweder ganz offen oder (innerhalb moskautreuer KPs) implizit, und die unter den Marxisten nach 1956 vorherrschenden politischen Strömungen, die Trotzkisten und die Maoisten, definierten sich durch ihre Ablehnung der Sowjetideologie sowie des sowjetischen Regimes.
Gleichwohl war der Zusammenbruch der UdSSR und des sowjetischen Modells nicht nur für Kommunisten traumatisch, sondern für Sozialisten allerorten, und sei es nur deshalb, weil es, allen offenkundigen Mängeln zum Trotz, der einzige Versuch gewesen war, tatsächlich eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Dieser Versuch hatte zudem eine Supermacht hervorgebracht, die fast ein halbes Jahrhundert lang als globales Gegengewicht zum Kapitalismus der alten kapitalistischen Länder fungiert hatte. In beiderlei Hinsicht war ihr Scheitern – von ihrer offenkundigen Unterlegenheit in vielen Punkten gegenüber dem westlichen liberalen Kapitalismus gar nicht erst zu reden – augenscheinlich, selbst für diejenigen, die nach 1989 nicht in das Triumphgeheul der Ideologen in Washington
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