Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
für die, welche die Welt realistisch betrachten. Es ist offenkundig, dass eine herrschende Klasse nicht nur auf Zwangsapparat und Autorität setzt, sondern auch auf Konsens, der sich aus der Hegemonie ergibt – Gramsci spricht von »intellektueller und moralischer Führung« ( Gefängnishefte , S. 1947), die von der herrschenden Gruppe ausgeübt wird, und von der »von der herrschenden grundlegenden Gruppe geprägten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens« ( Gefängnishefte , S. 1502). Neu bei Gramsci ist die Beobachtung, dass auch die bürgerliche Hegemonie nicht automatisch gegeben ist, sondern durch bewusstes politisches Handeln und politische Organisation erlangt wird. Das Bürgertum in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance konnte, wie Machiavelli vorschlug, nur durch solches Handeln eine nationale Hegemonialstellung einnehmen – tatsächlich durch eine Art Jakobinismus. Eine Klasse muss überwinden, was Gramsci als »ökonomisch-korporative« Organisation bezeichnet, um politisch hegemonial zu werden; aus diesem Grund bleiben übrigens selbst die militantesten Gewerkschaften ein subalterner Teil der kapitalistischen Gesellschaft. Daraus folgt, dass die Unterscheidung zwischen »dominanten« oder »hegemonialen« und »subalternen« Klassen von grundlegender Bedeutung ist. Das ist eine weitere Neuerung Gramscis und ein entscheidender Punkt in seinem Denken. Denn das Grundproblem der Revolution besteht darin, wie man eine bislang subalterne Klasse zur Hegemonie befähigt, wie man dafür sorgt, dass sie an sich als potentiell herrschende Klasse glaubt und als solche auch für andere Klassen glaubwürdig ist.
Hier liegt für Gramsci die Bedeutung der Partei – sie ist für ihn »der moderne Fürst« ( Gefängnishefte , S. 955). Denn abgesehen von der historischen Bedeutung, welche die Entwicklung der Partei im bürgerlichen Zeitalter ganz allgemein hat – und Gramsci hat dazu einiges Brillante zu sagen –, erkennt er, dass die Arbeiterklasse allein über ihre Bewegung und ihre Organisation – in seinen Augen also über die Partei – ihr Bewusstsein entwickelt und die spontane »ökonomisch-korporative« oder gewerkschaftliche Phase überwindet. Wie wir alle wissen, war es in der Tat so: Wo der Sozialismus siegte, führte das zur Transformation von Parteien in Staaten und wurde durch diese Transformation bewerkstelligt. In seinen allgemeinen Ansichten über die Rolle der Partei ist Gramsci überzeugter Leninist, nicht aber in seinen Ansichten darüber, wie die Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt organisiert sein soll und wie das Parteileben auszusehen hat. Seine Ausführungen über Wesen und Funktionen von Parteien gehen meiner Ansicht nach über die Lenin’schen Vorstellungen hinaus.
Natürlich ergeben sich, wie wir wissen, beträchtliche praktische Probleme aus der Tatsache, dass Partei und Klasse, mögen sie historisch auch noch so gerne gleichgesetzt werden, nicht das Gleiche sind und divergieren können – vor allem in sozialistischen Gesellschaften. Gramsci war sich dessen sehr wohl bewusst, ebenso der Gefahren der Bürokratisierung und so weiter. Seine vehemente Ablehnung der stalinistischen Entwicklungen in der UdSSR bereitete ihm sogar noch im Gefängnis Probleme. Ich würde liebend gerne behaupten, dass er angemessene Lösungen für diese Probleme vorschlägt, aber ich bin nicht sicher, ob er in diesen Fragen wirklich weiter kommt als andere. Gleichwohl sind Gramscis Bemerkungen zum bürokratischen Zentralismus absolut lesenswert, auch wenn sie sehr konzentriert und nicht ganz einfach zu verstehen sind (vor allem in den Gefängnisheften ).
Ebenfalls neu ist Gramscis Beharren darauf, dass der Herrschaftsapparat, sowohl in seiner hegemonialen als auch in gewissem Maße in seiner autoritären Form, im Wesentlichen aus »Intellektuellen« besteht. Er definiert sie nicht als spezielle Elite oder als spezielle gesellschaftliche Kategorie, sondern als eine Art funktionaler Spezialisierung der Gesellschaft für diese Zwecke. Oder anders ausgedrückt: Für Gramsci sind alle Menschen intellektuell, aber nicht alle üben die gesellschaftliche Funktion von Intellektuellen aus. Das ist wichtig, denn es unterstreicht die autonome Rolle des Überbaus im gesellschaftlichen Prozess oder auch die simple Tatsache, dass ein Politiker, der aus der Arbeiterklasse stammt, nicht zwangsläufig das Gleiche ist wie ein Arbeiter an der Werkbank. Zu diesem Aspekt finden sich bei Gramsci durchaus brillante
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