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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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einstimmten. Der Kapitalismus hatte sein memento mori verloren. Die Sozialisten mussten erkennen, wie das Ende der Sowjetunion jede Hoffnung zunichte machte, aus dem Erbe der Oktoberrevolution könne irgendwie ein anderer und besserer Sozialismus entstehen (einer mit »menschlichem« Antlitz, wie es zu Zeiten des Prager Frühlings geheißen hatte). Nach 80 Jahren Praxis mussten sich diejenigen, die nach wie vor die ursprüngliche sozialistische Hoffnung auf eine Gesellschaft hegten, welche auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz beruhte, wieder auf Spekulation und Theorie zurückziehen. Die Marxisten konnten nicht die Augen davor verschließen, dass die Voraussagen ihrer Theorie zur historischen Zukunft offenkundig nicht eingetroffen waren.
    All das entmutigte nicht-staatliche Sozialisten und beraubte sie ihrer Perspektiven. Innerhalb der Staaten des »real existierenden Sozialismus« spülte es schlicht den gesamten Marxismus-Leninismus hinweg, sofern er nicht in asiatischen Parteien verankert war, die überlebten. In diesen Ländern war der Kommunismus (die »Partei als Avantgarde«) als Doktrin für eine ausgewählte Minderheit von Führungskadern und Aktivisten konzipiert, nicht als Glaube mit dem Anspruch auf universelle Bekehrung wie der Katholizismus oder der Islam. Allein das trug schon dazu bei, diejenigen zu entpolitisieren, die außerhalb dieser ideologiebedürftigen Sphäre standen. Was den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung zusammenhielt, waren dort, wo es sie gab, die traditionellen Bindungen zwischen Menschen und Staaten – historische Kontinuität, Patriotismus, ein Gefühl ethnischer oder anderweitiger kollektiver Identität, selbst die Gewohnheit des formalen Gehorsams gegenüber der etablierten Macht –, nicht aber ein Glaube an den Marxismus-Leninismus, es sei denn als Residuum der moralisch-politischen Erziehung, die alle Kinder erzwungenermaßen durchliefen. Als das System zusammenbrach, hinterließ es Kontinuitäten, Erinnerungen und Symbole, aber keine Loyalität gegenüber einer zivilen Religion.
    In den 1980er Jahren hatte eine große und tendentiell wachsende Mehrheit der Intellektuellen vermutlich wenig Zeit für das System oder hatte sich, wenn sie zu begeisterten Unterstützern ihrer neuen Regierungen in den Tagen der Befreiung geworden waren (was bei vielen in der Tat so war), in eine stillschweigende oder offene Dissidenz begeben wie etwa die Kommunisten an den Universitäten, die in Polen zu den »Denkfabriken« von Solidarność wurden. Fühlten sie sich noch immer dem Sozialismus verbunden, waren sie zumindest kritisch gegenüber den Defiziten der »real existierenden« Version geworden und wollten sie reformieren. Das galt zunehmend sogar für die führenden Kader des Systems selbst. Um 1980 vermerkte eine amerikanische Studentin, die sich zu Forschungszwecken in Polen aufhielt, die polnischen Parteifunktionäre würden sich vehement weigern, sich selbst als »Kommunisten« zu bezeichnen. Als sie zufällig ein hochrangiges Mitglied des Zentralkomitees fragen konnte, ob er Kommunist sei, antwortete er nach einer längeren Pause: »Ich bin Pragmatiker.« 1
    Auch unter den Parteimitgliedern hatte der Marxismus (im Unterschied zu den anfechtbaren Dogmen, die von oben verkündet wurden) keine tiefen Wurzeln geschlagen. Den meisten Mitgliedern oder angehenden Mitgliedern war an ihrer Ideologie nicht wichtig, ob sie wahr war oder ob sie sich anwenden ließ, sondern ob sie verbindlich war. »Was, wenn sich die Linie ändert, wie das mit Stalin der Fall war?«, fragte ein britischer Student an der Moskauer Parteihochschule einen sowjetischen Kommilitonen. »Er sah mich an, als sei ich ein politischer Analphabet. ›Dann wird das eben zur aktuell gültigen Wahrheit.‹« 2 Als das System zusammenbrach, musste seine Elite ohne Zweifel vielem nachtrauern, unter anderem einer landesweiten Ideologie, die nun verloren war, aber kaum jemand tat sich wirklich schwer damit, sich von deren marxistisch-leninistischer Version zu verabschieden, es sei denn, man gehörte zu der spezifischen Untergruppe, die hauptberuflich mit der Lehre zu tun hatte, also dem Pendant zu den Theologen des Vatikans. Jedenfalls übernahmen die Eliten ohne große Schwierigkeiten die Mischung aus staatlicher Patronage, »Dschungel-Kapitalismus« und Mafia-Macht, die zu einem der Hauptmerkmale des postsowjetischen Russlands wurde.
    Gleichwohl lässt sich der Rückzug vom Marxismus nicht einfach nur dem Zusammenbruch

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