Wie man einen verdammt guten Roman schreibt
einer Romanfigur geschrieben haben und trotzdem nicht alles wissen, was Sie gern über sie wüßten. Angenommen, Ihre Figur findet eine Brieftasche mit 10.000 Mark. Behält sie sie oder gibt sie sie zurück? Würde sie Selbstmordbegehen, wenn sie eine tödliche Krankheit bekäme? Wenn sie einen Gegenstand aus ihrem brennenden Haus oder ihrer brennenden Wohnung retten könnte, was würde das sein? Wenn Sie die Antwort auf solche Fragen nicht wissen, sollten Sie die Figur genauer ergründen, bevor Sie anfangen zu schreiben.
EINE ROMANFIGUR INTERVIEWEN ODER
DIE EINFACHSTE METHODE
SIE KENNENZULERNEN
Wenn Sie nach Erschaffung Ihrer Figuren immer noch nicht vor Ihrem geistigen Auge sehen, wie sie gehen, sprechen, atmen oder schwitzen, könnten Sie es mit einer kleinen psychoanalytischen Sitzung versuchen. Legen Sie sie auf die Couch und stellen Sie Ihre Fragen. So etwa könnte eine solche Sitzung ablaufen:
AUTOR: Was ich noch nicht ganz verstehe, Boyer, ist: Warum bleiben Sie eigentlich bei Ihrem Beruf? Ihre Mutter, die Ihnen sehr nahesteht, will, daß Sie damit aufhören, und Ihre Verlobte will die Hochzeit abblasen, wenn Sie damit weitermachen.
BOYER: Ihnen kann ich das sagen, weil Sie mein Autor sind, aber sonst würde ich es keinem Menschen erzählen. Ich habe das Gefühl, ich muß mir selbst etwas beweisen. Das ist der wahre Grund dafür, daß ich damit weitermache. Natürlich habe ich manchmal Angst, aber ich kann nicht einfach weglaufen. Wenn ich das täte, wäre ich kein Mann.
AUTOR: Ich verstehe - Sie wetteifern gewissermaßen mit Ihrem Vater. Zigarette? BOYER: Sie wissen doch, daß ich nicht rauche. AUTOR: Richtig, ich erinnere mich. Mal sehen … wie ich gehört habe, wählen Sie republikanisch.
BOYER: Falsch! Ich bin aus Rücksicht auf meine Familie eingetragenes Mitglied bei den Republikanern. Im Grunde bin ich unpolitisch. Ich gehe nicht oft wählen, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Entweder denke ich nicht dran oder es scheint keine große Rolle für mich zu spielen, wer gewählt wird. Ich weiß sowieso nicht genau, worum es eigentlich geht, und die Kandidaten sehen für mich alle gleich aus.
AUTOR: Erzählen Sie mir von dem Mädchen, das Sie heiraten wollen.
BOYER: Sally ist ein wunderbares Mädchen - süß, klug und eloquent.
AUTOR: Haben Sie schon mit ihr geschlafen?
BOYER: Was ist das denn für eine Frage?
AUTOR: Es ist wichtig, daß ich über Ihre Erfahrungen und Gefühle und so Bescheid weiß, wenn ich Sie richtig verstehen soll.
BOYER: Ich habe nie mit ihr geschlafen.
AUTOR: Haben Sie überhaupt schon mit einem Mädchen geschlafen?
BOYER: Nicht richtig - im College wär’s beinahe mal dazu gekommen.
AUTOR: Beinahe?
BOYER: Ja, also, beinahe eben.
AUTOR: Erzählen Sie mir davon.
BOYER: Das muß aber wirklich unter uns bleiben …
Wenn Sie Ihre Figur ausführlich interviewt haben, sollte sie für Sie ein lieber Freund oder ein verhaßter Feind geworden sein. Wenn sie Ihnen erst einmal so vertraut ist, sollten Sie zuversichtlich mit ihr arbeiten können.
IM ZENTRUM DER FIGUR:
DIE BEHERRSCHENDE LEIDENSCHAFT,
UND WIE MAN SIE FINDET
Die beherrschende Leidenschaft ist die zentrale Triebkraft einer Figur. Die Endsumme all dessen, was sie motiviert und antreibt. Die beherrschende Leidenschaft Boyer Bennington Mitchells hat mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun. Sie wurzelt in der Geschichte seiner Familie, in dem Wettstreit mit seinem Macho-Vater, dem Willen, seiner snobistischen Mutter zu beweisen, daß sie unrecht hat, dem Verlangen, seine physische Unzulänglichkeit durch die Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten zu überwinden.
Außerdem hat er einen starken Gerechtigkeitssinn und den übermächtigen Wunsch, seinen Job gut zu erledigen. Nicht nur gut, sagen wir: er will ein Künstler darin sein. Nicht nur ein Künstler, ein großer Künstler. Boyers beherrschende Leidenschaft:
der Leonardo da Vinci unter den Privatdetektiven zu sein.
Wird er schwanken, wenn er etwas Entmutigendes erfährt? Nicht sehr. Wird er sich durch Bestechung, Drohungen, Unannehmlichkeiten irre machen lassen? Keine Chance. Wird er aufgeben, wenn man ihn zusammenschlägt oder auf ihn schießt? Nein, weil er sich vor sich selbst beweisen will. Tief in seinem Innern wird er die Kraft finden, weiterzumachen. Es ist möglich, ihn ein wenig aufzuhalten, aber er wird sich nicht von seiner Aufgabe abbringen lassen. Er wird
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