Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
Andrejs tödlicher Verwundung und Nataschas Geschichte.
In Verbrechen und Strafe gibt es die Geschichte des Verbrechens und die Geschichte der Bestrafung.
In Vom Winde verweht gibt es die Geschichte, wie Scarlett Tara verliert und zurückbekommt, gefolgt von der Geschichte ihrer katastrophalen Ehe mit Rhett Butler.
Es gibt sehr viel Verwirrung über den Begriff der Prämisse, wenn ein Roman mehr als eine davon hat. Jede Geschichte hat ihre eigene Prämisse. Und ein Roman kann mehr als eine Geschichte haben, also auch mehr als eine Prämisse. Bei einem Roman mit mehr als einer Ge - schichte hat der Roman selbst keine Prämisse. Stellen Sie sich den Roman in dem Fall als ein »Behältnis« für diese Geschichten vor.
Mal angenommen, Sie möchten eine Geschichte über drei Schwestern erzählen. Die eine ist Krankenschwester, die zweite eine Intellektuelle und die dritte Prostituierte. Diese drei Geschichten haben nichts gemeinsam, außer daß die Protagonistinnen miteinander verwandt sind. Die Tatsache, daß sie Schwestern sind ist das »Behältnis« für die Geschichten. Das reicht.
Vielleicht möchten Sie aber auch eine Geschichte über vier Patienten schreiben, die zum selben Psychologen gehen, oder über fünf Leute, die sich an der Uni kennengelernt haben. Das »Behältnis« liefert dem Leser lediglich einen plausiblen Grund dafür, warum diese Ge - schichten in ein und demselben Buch vorkommen.
Eine Möglichkeit, einen Roman mit mehr als einer Geschichte zu schreiben, besteht darin, die Geschichten aneinanderzureihen. Jede Geschichte hätte dann ihre eigene Prämisse, selbst wenn alle Geschichten von derselben Figur oder denselben Figuren handeln.
Hier ist ein Beispiel: Mal angenommen, Sie schreiben einen historischen Roman über Sir Alec Cuthbertson, einen fiktiven Seehelden zur Zeit Napoleons. Sie könnten Ihren Roman damit beginnen, daß Sie Sir Alec als Fähnrich zur See an Bord einer Fregatte zeigen, die mitten in einem Taifun steckt. Außer sich vor Angst versteckt Sir Alec sich im Ankerkasten, während seine Kameraden gegen den Sturm kämpfen. Hinterher verrät Sir Alec einen Freund, um seine eigene Feigheit zu kaschieren. Sein Freund wird bestraft und Sir Alec mit höchsten Ehren ausgezeichnet und befördert. Die Prämisse: Feigheit führt zum Triumph.
Im nächsten Teil des Romans (einer neuen Geschichte) verliebt Sir Alec sich in die schöne Lady Ashley. Unglücklicherweise ist sie Lord Nothingham anverlobt, Sir Alecs Stiefvater und Mentor. Sir Alec überlegt, wie er Lord Nothingham aus dem Weg räumen kann. Er fädelt ein, daß sein Stiefvater des Betrugs beim Kartenspiel bezichtigt wird. Da Lord Nothingham, wie Sir Alec weiß, sich auf keinen Fall deswegen duellieren wird, ist dessen Schande damit besiegelt. Lady Ashley würde niemals einen in Unehre gefallenen Feigling heiraten und ehelicht statt dessen Sir Alec. Die Prämisse dieser Geschichte: Fleischeslust siegt über familiäre Bande.
In der nächsten Geschichte wird Sir Alec in den Krieg geschickt. Hier flüchtet er sich vor dem Lärm der Gewehre in eine Nebelbank, wo er seine Kanone abfeuert, um gut dazustehen. Dabei versenkt er jedoch versehentlich ein englisches Flaggschiff. Die Prämisse: Feigheit führt zu Schande.
Als nächstes finden wir Sir Alec im Gefängnis, wo er auf seine Hinrichtung wartet. Er ist voller Reue. Wo wird diese Reue hinführen? Vielleicht meldet er sich freiwillig zu einem Selbstmordkommando. Nehmen wir einmal an, er verliert den Mut und führt seinen Auftrag nicht zu Ende, sondern verrät sein Land, ergibt sich den Franzosen und fällt in eine verzweifelte Depression. Die Prämisse? Reue führt zu Depression.
Wie Sie sehen, besteht das Leben von Sir Alec aus einer Reihe von Geschichten, die jeweils eine eigene Prämisse haben. Sein Leben ist das »Behältnis«, das die Geschichte zusammenhält. Die Teile seines Lebens, die zwischen diesen Geschichten liegen, werden übersprungen - zum Beispiel die drei Jahre, die er bei Haferschleim im Gefängnis sitzt und mit den anderen Gefangenen Whist spielt.
Bei dieser Technik würde der Leser beim Lesen der ersten Geschichte wissen, daß es um Feigheit geht, beim Lesen der zweiten, daß es um Liebe geht, und so weiter. Sie sehen also, obwohl die Hauptfiguren durchaus dieselben bleiben können, haben die Geschichten un - terschiedliche Prämissen.
Eine andere Möglichkeit, einen Roman mit mehreren Prämissen aufzubauen, wäre zwischen den Geschichten hin und her zu
Weitere Kostenlose Bücher