Wie man leben soll: Roman (German Edition)
es um Kuvertkleben oder ein Pyramidenspiel geht.
Einmal sticht einem ein Inserat ins Auge: SECURITY FÜR KONZERTE GESUCHT. Einen ganzen Tag lang geht man auf und ab und grübelt. Schließlich wirft man die Zeitung weg. Es würde ja doch nichts draus werden. Und wenn man sich schon gegen Mirko nicht durchsetzen kann, wie will man sich ausgeflippten Rockfans in den Weg stellen?
Während man die schnurrende Ascuas streichelt und ein Tankstellentiramisu verspeist, fragt man sich, über welche Fähigkeiten man verfügt. Man holt Papier und Stift.
Autofahren.
Nach drei Stunden steht noch immer nicht mehr auf dem Zettel.
Den Gedanken, bei Essen auf Rädern oder einem Taxiunternehmen anzuheuern, findet man haarsträubend. Man hatte andere Ziele. Wie passt das zu niederen Botendiensten und finanziellem Überlebenskampf?
Was geschieht da?
Taxi fahren. Essen zustellen. Blut spenden. Von Tür zu Tür gehen. Hotelportier, Lagerhilfe, Kellner. Versicherungen verkaufen.
Merke: Der Entschluss, es ernsthaft mit dem Streben nach Erkenntnis zu versuchen, fällt stets in Momenten tiefer intellektueller und moralischer Depression.
Man nimmt sich vor, fleißig zu studieren. Man wird herausfinden, wer man ist, was man kann und was man will. Noch hat man Zeit. Das hat einem auch einer der alten Künstler im Priamus versichert. Man habe Zeit bis fünfundzwanzig, aber dann müsse man Gas geben, es gebe zu viele Versager und Schwätzer und versoffene Nichtstuer. Man ist noch lange nicht fünfundzwanzig. Noch muss man kein Geld verdienen, man bekommt es geschenkt. Heil denen, die einem schenken. Man braucht nicht nervös zu werden. Doch man muss sich zusammennehmen.
Die Euphorie über die Entscheidung, ein neues Leben anzufangen, treibt einem Tränen in die Augen. Man fühlt Erleichterung und Glück. Man läuft in die Buchhandlung, um unterstützende Literatur zu erwerben. Zum erstenmal seit langer Zeit lässt man die Ratgeber links liegen und stürzt zur Philosophieecke. Man nimmt Kant, Fromm und Nietzsche aus dem Regal.
Auf dem Weg zur Kasse kann man es sich nicht verkneifen, die Neuerscheinungen unter den Ratgebern zu begutachten.
Der Weg zu sich selbst.
Kennt man noch nicht. Nimmt man mit.
Man bezahlt und fühlt sich schon besser. Ein Anfang ist gemacht.Man wird nicht untergehen. Man wird nicht zum Versager und Schwätzer werden.
Wenn man mit Büchern von Kant und Fromm auf der Straße steht und einem die Zehen in den coolen neuen Stiefeln abfrieren, ist man überzeugt, sich damit einen Besuch im Jack Point verdient zu haben. Obwohl ein Bus hinfährt, winkt man einem Taxi. Es ist noch Weihnachtsgeld übrig.
Nachdem man vier Portionen Kartoffelsalat gegessen hat, fällt man wie ein Berserker über die Spielautomaten her. Man flippert. Mit einem der schweigsamen Serben spielt man Tischfußball. Bei der Basketball-WM erreicht man das Finale. Man sitzt so lange im Flugsimulator, bis einem schwindlig wird. Der verhexte Fünferautomat schluckt siebzig Fünfer.
Endlich meint man, es sei genug. Mit dem Taxi fährt man zum Kant-Lesen ins Café Schiller.
Zu den kulturellen Errungenschaften der Neunziger zählt das männliche Recht, Strumpfhosen tragen zu dürfen. Wenn man sitzend einige Stunden in einer schlecht geheizten Spielhalle verbracht hat, ärgert man sich darüber, auf dieses Recht an diesem Tag verzichtet zu haben. Man hat Eisfüße. Da hilft es auch nicht, dass man dick ist. Vielleicht sollte man Sport treiben. Wenn man schon dabei ist, sein Leben neu zu gestalten.
Noch ehe man im Café Schiller Kaffee bestellt hat, nimmt man eines der Bücher aus der Tasche.
Merke: Wenn man das erste Mal ein Buch von Kant zu lesen beginnt, erlebt man sein blaues Wunder.
Nachdem man festgestellt hat, dass Kant für den Anfang zu hoch gegriffen ist, will man sofort Torte essen und ärgert sich, keinen Karl May dabei zu haben. Man geht zur Zeitschriftenablageund holt sich die
Kronenzeitung
. Man freut sich, die fünf Fehler im Bilderrätsel auf Anhieb gefunden zu haben, und vertieft sich in den Sportteil.
Die Kellnerin kommt. Und nun passiert etwas Wunderbares.
Oft stellt man sich vor, wie der nächste Partner wohl aussehen wird. Es kann vorkommen, dass man betrunken in einer Toilette steht und sich fragt, was die Zukünftige, die man noch gar nicht kennt, wohl in diesem Augenblick macht. Vielleicht schält sie Kartoffeln, vielleicht hüpft sie durch eine Disco, vielleicht hat sie gerade enttäuschenden
Weitere Kostenlose Bücher