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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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zu singen. Da niemand im Raum über Stimme oder Gehör verfügt, erschallt vor dem Weihnachtsbaum Gekreisch und Gewinsel. Dennoch sieht man Tränen der Ergriffenheit. Man muss daran denken, dass dies der erste Weihnachtsabend seit Jahren ist, an dem man später von keinem Mädchen erwartet wird. Man ist allein. Der Kloß, den man schon den ganzen Tag über im Hals fühlt, wird dicker.
    Onkel Hans, der Einzige in der Runde, der einen zu verstehen scheint, klopft einem verstohlen auf die Schulter.
    Nachdem das Lied verklungen ist, küssen sich alle, wischen sich die Augen und wünschen einander Frohe Weihnacht. Geschenke werden ausgetauscht.
    Seit Jahren ist vereinbart, dass niemand dem anderen etwas schenkt. Und seit Jahren kommen am Weihnachtsabend alle mit Geschenken an. Ist ja nur eine Kleinigkeit, sagen sie. Und wenn man sich an die Vereinbarung gehalten hat, steht man dumm da. Also müssen Weihnachtsgeschenke besorgt werden.
    Es ist eine unabänderliche Regel, dass man vor Weihnachten Tag um Tag nervöser wird, weil man keine Ahnung hat, wen man womit beschenken soll. Da sowieso klar ist, dass sich niemand über das Geschenkte freut, so wie man selbst sich niemals über T-Shirts mit Bambi-Motiv oder karierte Aktentaschen freut, bekommt Onkel Johann den gleichen Wein wie im Vorjahr, Tante Kathi das gleiche Parfum, Mutter wieder eine Setzkastenfigur,Tante Wilma eine Strumpfhose und Onkel Hans eine Autogrammkarte des Motocrossers Heinz Kinigartner. Er ist der Einzige, dessen Dankbarkeit nicht gespielt ist. Die Sedlaks bekommen einen Händedruck.
    Wie jedes Jahr bekommt man von allen Geldkuverts, und wie jedes Jahr macht nur Mutter eine Ausnahme. Sie hat einem Gesichtscremes aus Holland besorgt, weil es, wie sie sagt, mit der Haut partout nicht besser werden will und man aussehe wie eine Sau nach einer Hormonkur. Lahm bedankt man sich. Über die Schulter hinweg zischt einem Tante Kathi zu, man sei undankbar und könne sich ruhig über die teure Creme freuen.
    Wenn man sich am 24.   Dezember an den Tisch setzt, besteht der Weihnachtsschmaus wie eh und je aus Spaghetti Bolognese mit Kartoffelsalat. Da Tante Kathis Kochkünste seit den kargen Tagen des Zweiten Weltkriegs keinerlei Wandlung unterworfen wurden, sind die Nudeln eine breiige Masse, über der eine puddingartige Substanz zittert, und der Kartoffelsalat erinnert auch nur entfernt an die Qualität jenes im Jack Point.
    Während dieses infernalischen Mahls werden Familienangelegenheiten besprochen.
    Als Onkel Johann sich mit der Serviette den Mund abwischt, ist dies das Zeichen, dass sich alle zwangloser benehmen dürfen. Man setzt sich aufs Klo. Vom Toilettenpapier reißt man zwei Streifen ab und stopft sie sich in die Ohren, um die Geräusche aus dem Wohnzimmer zu dämpfen. Man singt sich selbst
The End
vor und versinkt in einen Traum.
    Man hat die Einladung zu jener Talkshow doch angenommen und ist berühmt. Paoletta verlässt ihren Schauspieler und wirft das Archäologie-Studium hin, weil sie jedes Konzert, das man gibt, ansehen muss und einem durch halb Deutschland hinterherfährt. In der Lobby eines Hotels redet man auf sie ein: dass sie nicht ihr Leben wegwerfen solle wegen einer fixen Idee, dass ihre Gefühle für einen zwar stark seien, aber dass sie sich selbstnicht verlieren dürfe. Sie solle ihr Studium wieder aufnehmen, und man werde sie besuchen, wenn man wieder in der Stadt sei. Sie schluchzt auf, sie erträgt es nicht, so lange zu warten. Sie will dableiben, sie kann sich das Leben nicht ohne einen vorstellen. Man solle wenigstens mit ihr schlafen. Lächelnd antwortet man, dass das nicht gehe. Man tupft ihr die Tränen vom Gesicht   …
    Auch durch die Klopapierstecker in den Ohren hört man das Hämmern an der Tür. Es ist so energisch, dass man hochfährt und sich die Pfropfen aus den Ohren reißt.
    –  Was soll das Gejaule?, schreit Mutter. Bist du da drin eingeschlafen? Glaubst du, du bist der Einzige, der   …
    –  Sag’s nicht!, vernimmt man Tante Kathis Stimme. Wage es ja nicht! In diesem Haus nicht!
     
    Mit den Weihnachtstausendern in der Tasche kann man sich ein Taxi leisten. Man fährt zum Café Schiller. Es ist geschlossen. Vom Taxifahrer erfährt man, am Weihnachtsabend sei es Gaststätten untersagt, offenzuhalten. Die Regierung wünsche, dass die Männer den Feiertag bei ihren Familien verbringen, anstatt im Gasthaus zu saufen. Er kenne jedoch zwei Lokale, die sich dieser Vorschrift widersetzten.
    Das hätte der Kerl auch

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