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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Protest zur Folge, und man wird den ganzen Abend lang beschimpft. Da man sich vorstellenkann, was dann Tante Ernestine erst zur neuen Frisur sagen wird, besucht man sie am 25.   Dezember mit einer Mütze auf dem Kopf, die abzulegen man sich weigert, weil man an einer Hauterkrankung leide. Mitleidig gibt Tante Ernestine einen Schein mehr als letztes Jahr. Sie redet von der steigenden Kriminalität.
    So kennt man sie nicht. Man sieht sie an. Sie ist blass, hat abgenommen, ihre Waden sind doppelt so dick wie früher. Es ist das Wasser. Man schaut schnell weg.
     
    Merke: Ein Kahlkopf wird nur bei älteren Männern als attraktiv angesehen.

 
    Da man einer Familie entstammt, in der Aberglaube, Ahnungen und andere Okkultismen verbreitet sind, fährt man auch in der Nacht vom 25. auf den 26.   Dezember schlaftrunken in seine Kleider, wenn man geträumt hat, Tante Ernestine gehe es schlecht.
    Man hat so starkes Herzklopfen, dass man fürchtet, gleich umzukippen. Mit zusammengebissenen Zähnen torkelt man ins Bad, wo man sich kaltes Wasser ins Gesicht schüttet. Man nimmt den Zweitschlüssel zu Tante Ernestines Haus vom Haken. Während man darauf wartet, dass in der Taxizentrale jemand abhebt, blickt man auf die Uhr. Drei Uhr dreißig morgens.
    Es hat leicht geschneit, in Kurven gerät der Wagen ins Schlittern. Der türkische Fahrer lacht darüber. Er möchte mit seinem Fahrgast ein Gespräch anfangen. Leider kann er schlecht Deutsch. Aus Höflichkeit nickt man ihm zu, ganz egal, was er sagt. Man bekommt Wortfetzen mit: Trinken   … Schicht   … Trinken   … Wurzsemmel   … Mustafa   … Montag   … Hauspeter, Hauspeter!… tot   … straff   … später, und der Fahrer steigert sich immer weiter in seine Geschichte hinein. Mal grinst er, mal schlägt er erbost gegen das Lenkrad, murmelt etwas und sagt: Inschallah. Kurz darauf lacht er wieder.
    Man lächelt ihm zu. Die Situation findet man ungemütlich, aber man weiß nicht, was tun. Stumm drückt man sich in den Sitz und beobachtet, wie der Mann heftiger und heftiger wird. Am liebsten stiege man aus. Doch womöglich wäre der Fahrer dann beleidigt. Dieses Risiko will man nicht eingehen.
    Er lacht schallend. Hauspeter, Hauspeter!, ruft er erneut unddeutet mit beiden Händen, wie er jemandem die Kehle zudrückt. Das Lenkrad dreht sich, das Taxi beschreibt eine Pirouette, gerade als man über einen großen Platz fährt. Zum Glück ist kein anderes Auto in der Nähe. Der Fahrer kann den Wagen abfangen. Dieses Ereignis entflammt ihn noch mehr. Über das ganze Gesicht lachend, hüpft er auf seinem Sitz und schreit: Hauspetterr! Hauspetterrr!
    In den Rücksitz gepresst, die Hände in Haltegriffe gekrallt, betet man, dass das Ziel rasch und ohne kritischere Zwischenfälle erreicht wird. Längst ist einem der Fahrer nicht geheuer. Doch woher soll man die mindestens achtzig Prozent Draufgänger nehmen, die einem abgehen, um dem Fahrer das Anhalten zu befehlen? Man kann nur versuchen zu kalmieren.
    – Sprechen Sie von einem gewissen Hans-Peter, Herr Chauffeur?, fragt man freundlich.
    Der Fahrer zuckt zusammen, dreht sich um, das Lenkrad ist sich selbst überlassen.
    – Kennen? Hauspeter kennen?
    Dem zusammenhanglosen Gestammel und Gebrüll des Fahrers kann man entnehmen, dass man verdächtigt wird, gut Freund mit einem Hans-Peter zu sein, dem der Fahrer Rache geschworen hat. Die Hand an der Türschnalle, bereit, sich auf den Asphalt zu stürzen, rechtfertigt man sich, es sei einem noch niemals ein Mann dieses Namens über den Weg gelaufen. Damit gibt er sich schließlich zufrieden. Er lacht und zeigt wieder das Würgen.
     
    Merke: Wenn man an einen verrückten Taxifahrer gerät, sollte man aufpassen, was man sagt.
     
    Nachdem man unbeschadet vor Tante Ernestines Haus angekommen ist und ein enormes Trinkgeld gegeben hat, geht man eine Weile auf und ab. Zwar drängt es einen hinein, Nachschauzu halten, aber aufgrund der Fahrweise des Türken ist einem übel.
    Man streift Schnee vom Gartenzaun und reibt sich damit übers Gesicht. Man blickt zu den Fenstern hoch. Alles ist dunkel. In der Umgebung ist kein Laut zu hören, auch das Geräusch des sich entfernenden Taxis ist längst verstummt.
     
    Ehe man den Schlüssel umdreht, lauscht man an der Tür. Nichts. Das Herz beginnt wieder schneller zu schlagen. Ist Tante Ernestine noch am Leben?
    Man beißt sich auf die Lippen, so laut quietscht die Wohnungstür. Tastend schließt man sie hinter sich. Minutenlang verharrt man

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