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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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regungslos, um nicht zuviel Lärm auf einmal zu machen und die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dort drüben, keine fünf Meter von einem entfernt, liegt Tante Ernestine. Man hört kein Schnarchen, kein Atmen, man hört nichts, und es ist stockdunkel.
    Wenn man fett ist und sich leise fortbewegen will, sollte man das Gewicht verteilen.
    Da der Holzboden bei jedem Schritt knarrt, beschließt man nach Minuten des Zögerns, sich wie bei fast jedem nächtlichen Besuch auf den Boden zu legen und in dieser Haltung zu Tante Ernestines Bett zu robben, um sich zu vergewissern, ob sie noch lebt. Ein Ächzen unterdrückend, kniet man nieder, stützt die Hände auf und legt sich auf den Bauch.
    Den Bruchteil einer Sekunde später steht man aufrecht da und brüllt aus vollem Hals: – Uah! Voll in die Wampe! Au, au, au! Reflexartig knipst man Licht an. Im matten Schein der Stehlampe sieht man, dass der Bauch mit Reißnägeln gespickt ist. Sich umblickend, stellt man fest, dass Tante Ernestine, wohl aus Angst vor Einbrechern, den ganzen Boden mit Reißnägeln belegt hat.
    Durch das Gezeter aufgeschreckt, fährt Tante Ernestine hoch und sieht einen fetten, glatzköpfigen Kerl, der wie ein riesiger Gummiball durch ihre Wohnung springt und dabei aus Leibeskräften Schreie der Pein ausstößt.
     
    Merke: Ein Herz kann hundert Jahre halten, aber danach verträgt es keine Aufregung mehr.

 
    Wenn eine alte Frau stirbt, gibt es keinerlei Autopsie, da jedermann hocherfreut ist, dass sich der Zustand der Pensionskassen wieder ein Stückchen gebessert hat.
    Weil man nicht ins Gefängnis gehen will, erzählt man niemandem vom letzten Besuch bei Tante Ernestine. Einige Tage lang läuft man mit schlechtem Gewissen im Kreis. Weinen und an die Luft gerichtete Entschuldigungen wechseln einander ab. Hart trägt man daran, dass man mit niemanden über seine Schuld sprechen darf.
    In solcher Stimmung wird man von Tante Kathi genötigt, an der Testamentseröffnung teilzunehmen. Man ist nicht verwundert, als man hört, man solle den größten Teil des Geldes erben, aber man staunt, als man erfährt, dass Tante Ernestine zu Lebzeiten fast alles verputzt hat. Das Haus gehörte ihr nicht mehr, sie hatte nur noch Wohnrecht. Auf der Bank liegen gerade noch hunderttausend Schilling. Davon soll man, so wollte sie es, die Hälfte erhalten.
     
    Merke: Auch um lächerliche Summen können Erbschaftsstreitigkeiten entstehen.
     
    Viel bekommt man von den aufbrechenden Fehden nicht mit, da man mit einem Herzen voller Kummer wochenlang in den eigenen vier Wänden bleibt und nicht einmal zum Wäschetauschen Mutter besucht. Fest steht, dass man von den Fünfzigtausend lange nichts zu sehen bekommen wird, da verschiedene entfernteVerwandte Anspruch darauf erheben und Tante Kathi ihre Anwälte auf sie hetzt. Da man das Geld sowieso nicht will, hört man diesen Berichten am Telefon kaum zu.
     
    Wenn ein Familienmitglied verstorben ist, fragt man sich, ob diese Person aus dem Jenseits Gedanken lesen kann und ob man von ihr beobachtet wird.
    Solche Gedanken suchen einen in den unpassendsten Momenten heim. Während man auf dem Bett masturbiert, kommt einem Tante Ernestine in den Sinn. Sieht sie jetzt zu? Denkt sie sich, mein Gott, der Junge, was hat er da in der Hand?
    Wenn man sich in solche Erwägungen hineinsteigert, kann das dazu führen, dass man wochenlang nicht zu masturbieren imstande ist, geschweige denn Sex mit seiner Freundin haben will.
    Nimmt man Pornozeitschriften in die Hand: Sieht Tante Ernestine zu? Wäscht man sich: Sieht Tante Ernestine zu? Stopft man sich mit Schokolade voll: Ist Tante Ernestine da? Denkt man Schlechtes über andere Leute: Hört Tante Ernestine mit?
     
    Merke: Wenn Verwandte gestorben sind, wird man den Verdacht nicht los, dass ihre Seelen einem unsichtbaren Nebel gleich durch die Wohnung wabern.
     
    Am schlimmsten ist es nachts. Man schreckt aus einem bösen Traum hoch. Erst weiß man nicht, wo man ist. Dann fällt einem Tante Ernestine ein. Man glaubt, ihre Anwesenheit zu spüren. Da fragt man sich zuweilen, ob sie einem verziehen hat. Oder ob sie zusammen mit dem Seifensieder Ränke schmiedet.
    Der Gedanke, aus dem Jenseits verfolgt zu werden, ist unangenehm.

 
    Da man sich die Wohnung ohne Tante Ernestines Zuwendungen nicht mehr leisten kann, Laura aus Gründen der Eigenständigkeit niemals mit einem Partner zusammenleben will, man aber nachts allein Angst vor Gespenstern hat, nimmt man sich ein günstiges Zimmer in

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