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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bayard
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wieder in die heikle Situation, meine Meinung Autoren gegenüber äußern zu müssen, die die Texte, die sie geschrieben haben, kennen und zu allem Überfluss auch noch erfahrene Rezensenten sind, die sehr wohl abschätzen können, wie weit ich sie tatsächlich gelesen habe oder ob ich ihnen einen Bären aufbinde.
    ∗
    »Vieldeutig« heißt wohl das Adjektiv, mit dem sich die öffentlichen Äußerungen der beiden Helden aus
Ferdinaud Céline
[ 1 ], dem berühmten Kriminalroman von Pierre Siniac, am treffendsten beschreiben lassen. Dochin und Gastinel, die beiden Autoren des Bestsellers
La Java brune
[ 2 ], sind auf den ersten Seiten des Buches zu einer literarischen Fernsehsendung eingeladen, bei der sie sich, gelinde gesagt, ziemlich eigenartig betragen. Es sieht so aus, als hätte keiner der beiden richtig Lust, auf die Fragen einzugehen, die ihnen über ein Buch gestellt werden, zu dem sie sich eigentlich nur beglückwünschen können, hat es ihnen doch ein Vermögen und Fernsehauftritte eingebracht.
    Der jüngere der beiden Autoren, Jean-Rémi Dochin, ein langer Dünner, fühlt sich ganz offensichtlich nicht recht wohl in dieser Sendung:
    »Dochin hingegen wurde zunehmend schläfriger und sah aus, als ginge ihn das alles nichts an. Er schien nur mit Mühe zu folgen. Vor den Kameras wirkte er unschlüssig, ein bisschen neben der Spur, und er beendete die seltenen Sätze, zu denen er sich herabließ, fast nie.«[ 3 ]
    Doch die Müdigkeit erklärt nicht alles, es gibt eine plausible Erklärung dafür, dass Dochin, um den Ausdruck des Erzählers aufzunehmen, in Bezug auf sein eigenes Buch »mehr als unsicher«[ 4 ] wirkt. Er wurde nämlich von Gastinel – der körperlich genauso imposant ist wie sein Kompagnon schmächtig – von dem Buch, dessen Autor er theoretisch ist, gewaltsam enteignet, da dieser eigenmächtig seinen Namen auf den Umschlag gesetzt und sich so den Status des Koautors verschafft hat.
    Dochin hatte auf der Suche nach einem Verlag mit Gastinel Kontakt aufgenommen, und dieser witterte, als er das Manuskript in die Hände bekam, sofort einen Bestseller. So beschloss er, seinen Namen mit aufs Buch zu setzen, obwohl er keine einzige Zeile geschrieben hatte. Um Dochin die Zustimmung zu entreißen, sich als Koautor anzugeben, entschließt er sich zu einer Erpressung. Zu diesem Zweck verführter auf einem Ball ein junges Mädchen, bringt es zusammen mit Dochin in sein Landhaus, wo er diesen absichtlich betrunken macht. Dann vergewaltigt er das Mädchen, überfährt es mit dem Auto und filmt Dochin, wie er sich über die Leiche beugt, der er diskret dessen Ausweis untergeschoben hat.
    Seither lebt Dochin – aufgrund einer Kassette, die Gastinel sorgfältig verwahrt – in permanenter Bedrohung, eines Mordes angeklagt zu werden, den er zwar nicht begangen, dem er aber tatenlos zugesehen hat, und sieht sich auf Gedeih und Verderb seinem Komplizen ausgeliefert, der als Preis für sein Stillschweigen die Koautorschaft des Buches und die Hälfte der Urheberrechte eingefordert hat.
    ∗
    Wenn es Gastinel auch weder Skrupel bereitet, sich ein Manuskript anzueignen, von dem er keine einzige Zeile geschrieben hat, noch einen Mord zu begehen, so fühlt er sich doch unwohl beim Gedanken, vor einem großen Publikum über das betreffende Buch zu sprechen. Und zwar so unwohl, dass er dem Moderator der Sendung das Versprechen abgenommen hat, den Inhalt des Buches nicht zu erwähnen, woran er ihn während der Sendung auch stets sofort erinnert, wenn die Fragen allzu präzise werden und sich dem Text bedrohlich annähern:
    »Vergessen Sie unsere Vereinbarung nicht, die wir vor der Sendung getroffen haben. Dochin und ich möchten die Handlung des Romans um keinen Preis verraten. Also wenn es Ihnen nichts ausmacht, so sprechen wir lieberüber die Autoren. Dafür interessieren sich die Fernsehzuschauer doch sowieso am meisten.«[ 5 ]
    Gastinels Verhalten ist umso erstaunlicher, als er ein großer Causeur ist und überhaupt keine Schwierigkeiten hat, über das nächste Werk zu reden, den zweiten angekündigten Band von
La Java brune,
von dem er dem Publikum sogar mehrere Episoden verrät, obwohl das Buch noch gar nicht geschrieben ist. Ausschließen möchte er offensichtlich, zumindest in Anwesenheit Dochins, vom Werk des Letzteren zu sprechen.
    Diese kritische Vorsicht Gastinels ist durchaus gerechtfertigt. Wenn er es vorzieht, nicht über den Text zu reden, dann nicht, weil er ihn, wie so viele andere Persönlichkeiten

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