Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
dem ganzen Campus herum, und sogar in der Euphoric State Daily war eine Glosse, die darauf anspielte. Weil dadurch auf einmal eine Stelle unbesetzt war, haben sie den Fall Kroop nochmal aufgerollt und ihm doch die Position angeboten. Wahrscheinlich hat er
Hamlet
auch nicht gelesen, aber keiner hat ihn danach gefragt.«[ 16 ]
Wie Désirée feststellt, ist die Frage, ob der Nachfolger Ringbaums – der keinen anderen Ausweg sehen wird, als sich umzubringen –
Hamlet
gelesen hat oder nicht, zweitrangig. Wichtig ist, dass er diesen Zwischenbereich der virtuellen Bücher, der uns erlaubt, mit anderen zusammenzuleben und zu kommunizieren, nicht verlässt. Besser, man riskiert nicht, diesen einvernehmlichen Raum, der wie eine Schutzkleidung funktioniert, zu zerstören, und fragt den Kandidaten nicht nach dem genauen Stand seiner Shakespeare-Kenntnisse, jedenfalls nicht in diesem spezifischen Zusammenhang.
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Die Analyse dieses virtuellen Raums und seiner Schutzfunktion macht deutlich, dass wir nicht nur ein aus Kindheitserinnerungen herrührendes Schamgefühl zu überwinden haben, wenn wir es wagen, über ungelesene Bücher zu reden, sondern eine ernstere Bedrohung, die mit dem Bild zu tun hat, das wir von uns selbst haben und das wir den anderen bieten. In einem bestimmten intellektuellen Milieu, in dem das Geschriebene noch etwas zählt, sind die gelesenen Bücher wichtiger Teil dieses Bildes, das wir aufs Spiel setzen, wenn wir von unserer inneren Bibliothek sprechen und damit das Risiko eingehen, öffentlich ihre Grenzen einzugestehen.
In diesem kulturellen Kontext bilden die Bücher – die gelesenen wie die ungelesenen – eine Art zweite Sprache, die wir benutzen, um über uns selbst zu reden, um uns vor anderen auszudrücken und mit ihnen zu kommunizieren. Wie die Sprache dienen sie der Selbstdarstellung, aber auch der Vervollständigung, da uns die ihnen entnommenen undnach Belieben umgeformten Auszüge die unserer Persönlichkeit fehlenden Elemente liefern und unsere eigenen Lücken füllen.
Indem sie uns darstellen, verwandeln uns die Bücher, ganz wie die Wörter. Denn wir können nie vollständig mit dem Bild übereinstimmen, das sie von uns zeichnen, mit diesem bruchstückhaften, ob idealen oder abwertenden Bild, in dem unsere Besonderheiten verblassen. Und da wir diese Bücher oft nur als verschwommene oder vergessene Fragmente in uns tragen, befinden wir uns fast immer in Schieflage zu diesen wenig geeigneten Stellvertretern, die so ungenügend sind wie jede Sprache.
Wir tauschen im Gespräch über Bücher also weit mehr aus als von uns unabhängige Elemente einer Kultur, sondern geben Teile von uns selbst preis, die normalerweise dazu dienen, uns in beängstigenden Momenten der narzisstischen Bedrohung unseren inneren Zusammenhalt zu garantieren. Hinter dem Schamgefühl zeigt sich also, dass unsere Identität selbst durch diesen Austausch bedroht ist, und darum muss der virtuelle Raum unserer Selbstdarstellung um jeden Preis in der Ambiguität belassen werden.
Insofern ist dieser mehrdeutige gesellschaftliche Raum das genaue Gegenteil des schulischen, der ein Ort der Gewalt ist, an dem alles dem Phantasma unterliegt, es gäbe eine vollständige Lektüre und man könne wissen, ob die Schüler die Bücher, über die sie reden oder über die sie befragt werden, wirklich gelesen haben. Da die Lektüre nicht der Logik von wahr und falsch gehorcht, ist der Anspruch illusorisch, man könne die Ambiguität auflösen und mit Gewissheit beurteilen, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht.
Ringbaum, der den spielerischen Raum, in dem ein Gespräch über Bücher immer stattfindet – ein Raum der permanenten Verhandlung und damit der Heuchelei –, in einen Raum der Wahrheit verwandeln will, verstrickt sich damit in ein Paradox, das ihn in den Wahnsinn treibt. Er kann es nicht ertragen, diesen Raum im Unentschiedenen zu belassen, und will unbedingt als der Beste dastehen, was aufgrund der Besonderheit von Swallows Spiel heißt, als Verlierer: ein Bild von sich, das er, der die Unsicherheit nicht ertragen kann, akzeptieren muss, weil es weniger destabilisierend ist, das ihn aber, mit sich selbst versöhnt, ins Verderben führt.
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Wir sollten uns also, wenn wir ohne Scham über ungelesene Bücher sprechen wollen, von diesem repressiven Bild einer lückenlosen Bildung befreien, wie es von Familie und schulischen Institutionen übermittelt und durchgesetzt wird, ein Bild, dem wir vergeblich ein ganzes Leben lang
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