Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
UNESCO-LEHRSTUHL SEIN, IST GERADEZU LACHHAFT .]
» ELIZA: DAS WÜRDE ICH NICHT SAGEN .
Wie gebannt starrt Robin Dempsey seit zehn Minuten auf diese letzte Zeile des Dialogs. Als sie erschien, haben sich seine Nackenhaare gesträubt, denn sie fällt völlig aus dem Rahmen dessen, was ELIZA bisher geäußert hat. Keine Frage, keine Aufforderung, keine Feststellung irgendwelcher Fakten, die im Lauf des Gesprächs bereits erwähnt worden sind, sondern eine Meinungsäußerung. Wie kann ELIZA Meinungen haben? Wie kann sie etwas über den UNESCO-Lehrstuhl wissen, was Robin selbst nicht weiß oder ihr zumindest gesagt hat? Robin traut sich kaum, die Frage zu stellen. Schließlich tippt er langsam und zaudernd:
WAS WISSEN SIE DARÜBER ?
Unverzüglich antwortet ELIZA :
MEHR ALS SIE AHNEN .
Robin wird erst blaß, dann rot. Er tippt:
NA BITTE? WENN DU SO SCHLAU BIST, KANNST DU MIR VIELLEICHT AUCH SAGEN, WER DEN UNESCOLEHRSTUHL KRIEGT ?«[ 5 ]
Und der Computer, der sich langsam von seinem Status als Maschine emanzipiert, antwortet unerschütterlich:
» PHILIP SWALLOW «[ 6 ]
Wenn der Rechner in der Lage ist, feste Meinungen zu äußern, sogar über Dinge wie Universitätswahlen, dann, weil er gar nicht so autonom ist, wie Dempsey lange geglaubt hat, sondern von einem seiner Kollegen ferngesteuert wird, ein Betrug, der Dempsey zur Raserei bringt. Verständlicherweise, denn er hat, ohne zu wissen, dass er einem menschlichen Wesen gegenübersitzt, leichtfertig intimste Sachen verraten wie zum Beispiel seinen Hass auf Swallow und sich damit selbst in eine erniedrigende Situation gebracht.
Nun aber gehört das, was wir im kulturellen Bereich wissen, oder besser, meistens nicht wissen, zu dieser Intimsphäre, erst recht all die Lügen, zu denen wir greifen, um unsere Schwächen zu verbergen. Hätte er keine Maschine, sondern eine normale Vertrauensperson vor sich gehabt, hätte sich Dempsey nie zuzugeben getraut, dass es ihm wie uns allen oft passiert, über ungelesene Bücher zu sprechen. Denn dieses Geheimnis ist Teil der Verteidigungsmechanismen, die wir in Bewegung setzen, um vor den anderen unsereBildungslücken zu kaschieren und ihnen – und gleichzeitig uns selbst – ein präsentables Bild zu bieten.
Im Glauben, er habe es mit einer simplen Maschine zu tun, hat sich Dempsey entblößt und seine Wahrheit ausgerechnet jemandem preisgegeben, vor dem er sich unbedingt schützen möchte. Als Erstes die Wahrheit des Hasses, den er auf einen seiner Kollegen hat, ein Gefühl, das die Anstandsregeln der Gesellschaft und vor allem der Universitätswelt gewöhnlich zu verbergen zwingen. Wahrheit aber auch der Bildung, die von Gewalt durchdrungen ist und aus lauter Annäherungen besteht.
Dieses mehr oder weniger unbewusste Schamgefühl belastet unsere ganze Beziehung zu Büchern sowie die Gespräche darüber, da die Bildung – und das Bild, das wir von ihr zu geben versuchen – einen Schutz vor den anderen und vor uns selbst darstellt. Es ist wichtig, um seine Existenz zu wissen und seine Grundlagen zu analysieren, wenn wir eine Chance haben wollen, für die alltäglichen Situationen, in denen wir mit unseren Schwachstellen konfrontiert werden, adäquate Lösungen zu finden. Und wenn wir in diesem diskontinuierlichen Raum der Bildung, der aus lauter Buchfragmenten besteht und in dem unsere geheimste Identität – die eines verängstigten Kindes – ständig gefährdet ist, überleben wollen.
∗
Wenn Dempsey nie zugeben würde, es sei denn vor einem Computer, dass er wie jeder von uns gelegentlich über nicht gelesene Bücher spricht, so steht die Sache ganz anders für die Figuren aus
Ortswechsel,
einem anderen Romanvon Lodge, in dem ein regelrechtes Spiel um die Wahrheit über Bücher in Szene gesetzt wird.
Dieses Spiel hat sich ebender Philip Swallow ausgedacht, dessen wahrscheinliche Wahl auf den Lehrstuhl der Unesco Dempsey in
Schnitzeljagd
so sehr in Rage versetzt hat. In
Ortswechsel tauscht
Swallow, damals noch ein bescheidener Professor in England – das Buch spielt ein paar Jahre vor dem eben besprochenen –, seinen Posten mit einem brillanten amerikanischen Professor der Westküste, Morris Zapp, ein Austausch, der sehr bald noch durch den ihrer Lebensgefährtinnen verdoppelt wird.
Während seines Aufenthalts in Kalifornien also führt Swallow ein paar Studenten in das, wie er es nennt, »Erniedrigungsspiel« ein:
»Er brachte ihnen ein Gesellschaftsspiel bei, das er während seines Studiums erfunden hatte.
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