Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
beträchtlicher symbolischer Tragweite – ist besonders interessant, weil er die ganze Komplexität des Wahrheitsspiels deutlich macht, eine Komplexität, die hier durch das akademische Milieu noch gesteigert wird. Eigentlich kann ein englischer Literaturprofessor ohne Risiko zu- oder wenigstens vorgeben,
Hamlet
nicht gelesen zu haben. Zum einen ist kaum anzunehmen,dass man ihm glaubt. Und zum andern ist das Stück so bekannt, dass man es nicht gelesen haben muss, um darüber zu reden. Auch wenn es stimmt, dass er
Hamlet
nicht »gelesen« hat, so hat Ringbaum doch bestimmt einige Informationen darüber und kennt, außer der Filmadaption von Lawrence Olivier, noch andere Stücke Shakespeares. Und selbst wenn ihm der Inhalt des Dramas unbekannt ist, vermag er dessen Stellung innerhalb der kollektiven Bibliothek richtig einzuschätzen.
Es könnte also alles gut gehen, wenn Ringbaum nicht, verleitet durch die latente Gewalt dieses Spiels, aber auch den psychologischen Konflikt, von dem weiter oben die Rede war, den Fehler begehen würde, die
Ambiguität
über seine Kenntnis des Stückes zu zerstören. Damit verlässt er diesen unentschiedenen kulturellen Raum, den wir gemeinhin zwischen uns und den anderen entstehen lassen und in dem wir uns – und gleichzeitig ihnen – eine Spanne Unwissen zugestehen, im Bewusstsein, dass jede Bildung, auch eine profunde, sich um Löcher und Lücken herum konstruiert (Lodge spricht weiter oben von »Bildungslücken«), was sie nicht daran hindert, als Informationsensemble eine gewisse Konsistenz zu besitzen.
Diesen Kommunikationsraum über Bücher – und über Kultur in weiterem Sinn – könnten wir als
virtuelle Bibliothek
[ 15 ] bezeichnen, zum einen, weil er ein von Bildern, auch vonSelbstbildern dominierter Ort ist, und zum anderen, weil er nicht real ist. Er unterliegt einer bestimmten Anzahl von Regeln, die darauf zielen, ihn als diesen einvernehmlichen Ort aufrechtzuerhalten, in dem die realen Bücher durch fiktive ersetzt werden. Er ist eine Art Spielgelände, ein wenig vergleichbar mit einem Kinderspielplatz oder einer Theaterbühne, wo auch nur gespielt werden kann, wenn bestimmte Grundregeln eingehalten werden.
Eine dieser stillschweigenden Regeln besagt, dass man nicht herauszufinden versucht, inwieweit jemand, der behauptet, ein Buch gelesen zu haben, dies auch tatsächlich getan hat, und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist, dass das Leben innerhalb dieses Raums sehr schnell unerträglich würde, wenn die Ambiguität über die Wahrheit der Aussagen aufgehoben würde und man auf die gestellten Fragen unzweideutig antworten müsste. Und der zweite Grund ist, dass innerhalb dieses Raums der Begriff der Aufrichtigkeit selbst in Frage gestellt wird, denn wie wir gesehen haben, ist es höchst problematisch, überhaupt zu wissen, was es heißt,
ein Buch gelesen zu haben
.
Wenn Ringbaum mit seiner Behauptung,
Hamlet
nicht »gelesen« zu haben, die Wahrheit sagt – oder was er dafür hält –, verletzt er damit eine der Hauptregeln der virtuellen Bibliothek, die besagt, dass es zulässig ist, über nicht gelesene Bücher zu reden. Er macht diesen Raum durch die rücksichtslose Zurschaustellung seines Innersten zu einem Ort der Gewalt. Denn durch seine Geste offenbart er die Wahrheit über die Bildung, nämlich, dass sie eine Inszenierung ist, die dazu dient, die persönliche Unkenntnis und die Bruchstückhaftigkeit des eigenen Wissens zu verschleiern. Damitentblößt er nicht nur sich selbst, er begeht durch diese Aggression auch eine Art psychischer Vergewaltigung des anderen.
Die Härte der Reaktion entspricht ganz der Gewalt, die Ringbaum selbst auf diesen Raum der virtuellen Bibliothek ausübt, der doch durch seine Ambiguität in erster Linie spielerischer Natur sein sollte. Weil er es wagt, über seine Shakespeare-Lektüre, damit aber auch über die Besonderheit dieses Raums, die Wahrheit zu sagen, ist Ringbaum dazu verurteilt, ihn zu verlassen, und die Sanktion, von der Désirée am Ende ihres Briefes berichtet, lässt denn auch nicht auf sich warten:
»Eine pikante Geschichte, nicht? Aber warte nur, sie geht noch weiter. Howard Ringbaum ist wider Erwarten drei Tage später, als der Fall zur Beratung anstand, nicht fest angestellt worden, und es wird allgemein angenommen, daß der Fachbereich sich nicht traut, einen Anglistikprofessor zu bestallen, der in aller Öffentlichkeit zugibt,
Hamlet
nicht gelesen zu haben. Inzwischen war die Geschichte natürlich auf
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