Wie redest du mit mir
identifizierte sich aber doch bald mit dem Leistungsdenken seines Vaters. Schon als kleiner Junge trat er einem Leichtathletikverein bei und trainierte dort wie ein Besessener, bis sich die ersten Erfolge in Wettkämpfen einstellten. Als er dann ins Gymnasium kam, begann für ihn eine schwere Zeit. Wollte er doch seine sportlichen Erfolge beibehalten, oder sogar noch vergrößern, und zugleich den Schulstoff mit Bravour bewältigen. Mit eiserner Disziplin schaffte er beides. Nach dem Abitur begann er – zum Leidwesen seines Vaters (»Du hättest einmal meine Kanzlei übernehmen sollen«) – ein naturwissenschaftliches Studium, das er ebenfalls mit großem Erfolg abschloss. Heute ist Viktor als Biochemiker an einem renommierten Forschungsinstitut tätig. Um Mädchen hatte sich Viktor relativ wenig gekümmert, obwohl er mit seinem athletischen Äußeren und seiner Bildung nicht gerade unbegehrt war. Ein paar kurze Freundschaften dienten lediglich dazu, seine Erfolgsliste auch in diesem Bereich ein wenig anwachsen zu lassen. Doch das änderte sich mit Viktoria.
Viktoria, 29 Jahre alt, kommt aus sehr einfachen Verhältnissen. Sie ist das zweite von drei Geschwistern. Vater und Mutter waren, soweit sie zurückdenken kann, beide berufstätig, um der Familie einen gewissen Lebensstandard bieten zu können. An die Kinder wurden relativ wenig Anforderungengestellt. Zumindest für Viktoria und ihre ältere Schwester reichte es völlig, solange sie den schulischen Anforderungen einigermaßen gerecht wurden. Lediglich ihr kleiner Bruder wurde aufgrund einiger guter Zensuren (wie sie genau betrachtet auch die beiden Mädchen aufweisen konnten) als begabt eingeschätzt und auf die höhere Schule geschickt. Viktoria konnte das damals noch nicht einmal als Ungerechtigkeit empfinden. Sie besuchte ihre Realschule, schloss sie mit leidlich guten Noten ab und begann eine kaufmännische Lehre. Während dieser Zeit konnte sie sehen, wie ihre Eltern bei dem vergeblichen Versuch, doch noch zu ein wenig Wohlstand zu gelangen, immer mehr verbitterten; wie ihre ältere Schwester reich heiratete und binnen weniger Monate in dieser Ehe todunglücklich wurde; wie ihr kleiner Bruder auf dem Gymnasium scheiterte und seither seinen Lebensunterhalt mit ebenso lukrativen wie zwielichtigen Geschäften fristet. Spätestens von da an war ihr klar, dass sie ihr Leben nicht in den Dienst des Geldes stellen wollte. Nach abgeschlossener Lehre nahm sie einen Posten als Sekretärin an einem medizinischen Institut der Universität an, den sie heute noch innehat. Hier ist die Bezahlung zwar nicht besonders gut, auch Aufstiegsmöglichkeiten sind so gut wie nicht vorhanden, dafür hält sich ihr Arbeitsaufwand in Grenzen. Das ist ihr sehr wichtig, weil sie dadurch genügend Zeit für ihre diversen Hobbys findet. Trotz des fehlenden Verständnisses in ihrer Familie und bei den meisten ihrer Freundinnen begeistert sie sich für die schöngeistigen Dinge des Lebens. So besucht sie, wann immer es ihre Zeit erlaubt, Volkshochschulkurse oder Universitäts-Vorlesungen über Literatur, Malerei und Musik. In den Beziehungen, die sie bisher hatte, waren ihr die Männer schnell entweder zu erfolgsorientiert und/oder zu desinteressiert erschienen. So richtig verstehen, dachte sie sich,konnte sie bisher jedenfalls noch keiner. Doch dies, hoffte sie, würde mit Viktor anders werden.
Viktor und Viktoria lernten sich auf der Türschwelle eines mikrobiologischen Labors kennen. Beide hatten sich gerade über ein und denselben Professor geärgert. Sie schauten sich damals ein wenig länger in ihre vor Wut geröteten Gesichter, als dies zwischen männlichen Studenten und weiblichen Angestellten des Instituts üblich war. Vielleicht würden sie heute bestreiten, dass der gemeinsame Ärger sie verband. Wahrscheinlich würden sie sich auch nicht mehr daran erinnern, dass sie dieses zornig trotzige, hübsche Gesicht des jeweils anderen magisch anzog. Jedenfalls verabredeten sie sich und lernten sich schnell näher kennen und lieben. Viktor war und ist fasziniert von dieser Frau, die sich gegen so viele Widerstände ihr eigenes Leben eingerichtet hat. Sie erkämpft sich die Werte, die ihr wichtig sind, auch gegen die Überzeugungen ihrer Umgebung. Unbewusst hätte er sich ein solches Verhalten wohl sehnlich von seiner allzu nachgiebigen Mutter gewünscht. Auch Viktoria ist von der Stärke dieses Mannes begeistert. Hatte er sich doch aus dem gemachten Nest davongemacht, um seinen
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