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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Versteck gewechselt … Gott sei Dank, er war noch da. Als sich ihre Finger darum schlossen und sie ihn herauszog, riss sie sich den rechten Handballen am Nagel auf, doch sie achtete nicht darauf – sie hatte den Schlüssel, das war alles, was zählte.
    Es dauerte, bis sie ihn ins Schlüsselloch bekam, doch dann sperrte sie auf. Im Haus war es kühl und dunkel. »Regis!«, rief sie und spähte hinein.
    Doch der Raum war leer. Honor lehnte sich an die Tür und schloss die Augen. Sie fühlte sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Es war genau wie in Irland: John in Polizeigewahrsam, Regis verwirrt, wie erstarrt, unfähig, sich zu erinnern oder über das zu sprechen, was geschehen war.
    Was hatte Brendan gemeint?
Regis ist der Grund dafür, dass Ihr Mann nicht nach Hause kommen konnte. Dass Ihre Familie nicht zusammen sein konnte.
Seine Worte hatten so klar, so sicher geklungen. Er hatte etwas an sich, was nicht von dieser Welt war; die Mädchen hatten gesagt, Regis habe ihn »Erzengel« genannt. Treffender konnte man es nicht ausdrücken. Da sie auf dem Anwesen von Star of the Sea wohnten, sprachen ihre Töchter oft über Heilige und Engel. Doch dieser Junge strahlte eine Fürsorglichkeit und Aufrichtigkeit aus, die außergewöhnlich war.
    Sie versuchte nicht daran zu denken, was jetzt in Bernie und Tom vorgehen musste. Wenn sie die Uhr doch nur zurückdrehen könnte; sie hätte Bernies Brief nicht unter das Platzdeckchen legen dürfen, er war nicht für Regis’ Augen bestimmt gewesen. Man konnte ein Kind auf unterschiedliche Weise verlieren, doch den Verlust verwand man nie. Honor dachte an die Weihnachtskrippe, die Bernie und die Nonnen jedes Jahr im Advent vor der Kapelle aufstellten. Bernie hatte den Mädchen netterweise immer gestattet, dabei mitzuhelfen. Doch das Jesuskind in die Krippe zu legen, das hatte sie sich vorbehalten. Obwohl Regis gebettelt hatte, ihr diese Aufgabe zu übertragen, und Bernie ihrem Patenkind sonst keinen Wunsch abschlagen konnte, wie jedermann wusste. Ihre Schwägerin hatte dabei immer Tränen in den Augen, und Honor hatte Bernie nie zuschauen können, ohne selbst in Tränen auszubrechen.
    Nun kannte Regis also die Wahrheit – aus dem Brief, den ihre eigene Mutter geschrieben hatte. Falls sie schon vorher etwas von der Geschichte zwischen Bernie und Tom geahnt hatte, hatte sie es sich zumindest nicht anmerken lassen – und Honor hatte das Thema nie angesprochen, trotz aller Offenheit gegenüber ihren Töchtern. Nicht einmal Regis gegenüber, die immer verlangte, die volle, ungeschminkte »Wahrheit-und-nichts-als-die-Wahrheit« zu hören.
    An die Tür des Strandhauses gelehnt, öffnete Honor die Augen. Warum war es hier drinnen so dunkel? John hatte die Fensterläden geschlossen – was ihm ganz und gar nicht ähnlich sah. Er lebte für das Licht, je heller und gleißender, desto besser. Seine Fotografien waren Lichtstudien, und genau wie die
Tonalisten
und frühen amerikanischen Impressionisten pries er Black Hall wegen seines Lichtes, das hell und klar war, rein gewaschen vom Fluss und vom Meer.
    Doch im Raum war es stockdunkel. Der Geruch nach Entwicklungsflüssigkeit legte den Gedanken nahe, dass er hier gearbeitet hatte – was sie noch trauriger stimmte, weil es zu Hause, im angebauten Atelier, eine perfekt ausgestattete Dunkelkammer gab.
    Honor tastete sich zum Bett vor. Sie nahm Platz; als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie Johns Kamera auf dem Kopfkissen liegen. Eine uralte Leica, aus vordigitaler Zeit. Sie lächelte. Das war typisch John. Jederzeit bereit, Fotos zu machen, die einen bestimmten Augenblick an einem bestimmten Tag und bestimmte Empfindungen widerspiegelten. Auf dem behelfsmäßigen Nachttisch, einem Baumstumpf, entdeckte sie eine Schatulle –
die
Schatulle. Tom hatte sie vermutlich für ihn aufbewahrt.
    Sie hob den Deckel und spähte hinein. Da lag sie, Cormac Sullivans Todesurkunde, alt und brüchig. Es versetzte ihr einen Stich – sie liebte Johns Urgroßvater, den Mann, der den Mut besessen hatte, in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Das Heimweh hatte ihn dazu getrieben, in seiner neuen Heimat ein Abbild der Mauern zu bauen, die ein Wahrzeichen seiner alten Heimat waren. Er hatte eine Familie gegründet, Wurzeln geschlagen und damit das Fundament für spätere Sullivan-Generationen gelegt – John, Honor und ihre Kinder. Sein Ring lag ebenfalls in der Schatulle: der goldene Ring mit dem roten Stein.
    Plötzlich wurde

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