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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Meerungeheuers, das dem Familienwappen der Kellys entsprungen zu sein schien, durch die Wellen ritt.
    Es war ein heidnischer Traum, ungehörig für eine Nonne. Die Schwestern von Notre-Dame glaubten nicht an Meerungeheuer, auch nicht an das legendäre, von dem es hieß, es habe nach der Schlacht von Clontarg neben dem Leichnam von Tadgh Mor O’Kelly gewacht.
    »Er hat deine Haarfarbe«, sagte Tom. »Und meine Augen.«
    »Ein schmeichelhafter Vergleich, für uns beide«, entgegnete sie.
    »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?
Gibt
es überhaupt Spiegel im Konvent?«
    »Das geht dich nichts an.«
    »Herrgott, Bernie – kannst du ein Wunder nicht einmal dann erkennen, wenn du es mit deinen eigenen Augen siehst? Du denkst doch auch, dass er es ist. Ich kenne dich.«
    Bernie drehte sich wortlos um und ging davon. Sie betete insgeheim, er möge sie endlich in Ruhe lassen, aber er dachte nicht daran. Sie hörte seine Schritte hinter sich, auf dem befestigten Weg von der Blauen Grotte zum Parkplatz. Er führte an der Stelle vorbei, an dem der Wagen des Jungen stand – der mit rätselhaften, bunten Bildern bemalte alte Volvo. Das Auto war ihr aufgefallen, als er Agnes besucht hatte. Eines Abends war sie nach der Vesper hergekommen, um die Bilder genauer in Augenschein zu nehmen.
    Die weiße Katze, die den Mond betrachtete, gefiel ihr am besten. Brendan war es gelungen, Siselas Wesen in diesem Bild einzufangen – das Geheimnis einer tief verwurzelten Sehnsucht, eines namenlosen Verlangens. Bernie hätte gerne gewusst, ob Brendan die Geschichte der weißen Katze kannte, die als kleines Kätzchen, heimat- und mutterlos, von den Sullivans adoptiert worden war.
    »Da steht sein Wagen«, sagte Tom über ihre Schulter.
    »Es dauert sicher nicht lange, bis er wieder auf freiem Fuß ist und ihn abholen kann.« Bernie verspürte den Anflug eines schlechten Gewissens – sie hätte sich für Brendan einsetzen und der Polizei sagen müssen, dass er die Inschrift nicht in die Wand geritzt und auch nichts mit Regis’ Verschwinden zu tun haben konnte.
    »Darum geht es nicht. Hast du gesehen, was er gemalt hat?«
    »Ja«, erwiderte sie angespannt.
    »Das da auch?«
    Bernie starrte das Bild an, auf das er deutete: ein rothaariger kleiner Junge, der auf dem Rücken eines Meerungeheuers ritt, einen Ozean durchquerte, der zu beiden Seiten von hohen Klippen gesäumt war. Irland und Connecticut, hatte sie gedacht, als sie das Bild zum ersten Mal gesehen hatte.
    »Was ist damit?«, fragte sie.
    »Mein Gott, Bernie. Das ist das Familienwappen der Kellys!«
    »Ja, und? Was willst du damit sagen? Dass Brendan es kennt? Dass er glaubt, ein Kelly zu sein? Dass er den Atlantik überquert hat – wie eigentlich, nebenbei bemerkt? Auf dem Rücken eines
echten
Meerungeheuers? Das er gemeinsam mit Katzen, Füchsen und weißen Walen in seinen Bildern verewigt hat?«
    »Warum sollte er deiner Meinung nach sonst hier sein? Er hat sich wahrscheinlich an Catholic Charities gewandt und darum gebeten, seine Akte einsehen zu dürfen. Die Klinik in Dublin hat nie versprochen, dass das Baby in Irland bleiben würde – Kinder, die von dieser katholischen Organisation vermittelt werden, können überall auf der Welt ein neues Zuhause finden, vorausgesetzt, die Adoptiveltern verpflichten sich, sie im katholischen Glauben zu erziehen. Mein Gott, Bernie – er sucht seine leiblichen Eltern!«
    »Du irrst. Die Lösung ist vermutlich ganz einfach. Er hat sich in Agnes verliebt. Hals über Kopf, als er sie in der Notaufnahme betreut hat.«
    »Und wie erklärst du dir dieses Bild von der Katze?« Tom nährte mit seinen bohrenden Fragen genau die Zweifel, die sie zu verdrängen suchte. Woher sollte Brendan gewusst haben, dass die Sullivans das kleine weiße Kätzchen vor dem Verwildern gerettet hatten, wenn er nicht schon eine Weile in der Gegend war und Nachforschungen über die Familien auf Star of the Sea angestellt hatte?
    »Die Katze ist ein Archetypus. Ein Urbild, das seine Sehnsucht verkörpert«, sagte sie schließlich.
    »Blödsinn. Das ist Sisela. Ich sage dir, der Junge ist hier, um seine Familie zu finden.«
    »Er
hat
eine Familie. Er wurde adoptiert, er hat Eltern.«
    Tom schüttelte den Kopf. Seine Augen verengten sich, und Bernie konnte seine Enttäuschung fast körperlich spüren. Sie setzte ihre unerbittliche Miene auf, die sie im Verlauf der zehn Jahre, die sie als Mutter Oberin der Ordensgemeinschaft vorstand, perfektioniert

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