Wie Sand in meinen Händen
ihre Aufmerksamkeit von einem Block gefesselt, der neben der Schatulle lag. Sie kniff die Augen in dem spärlichen Licht zusammen, das durch die Risse und Spalten in den Fensterläden fiel, und sah, dass John sich offenbar Notizen gemacht hatte. Sie las: »Zug – durchgehend bis Montreal – Bus nach Quebec – 8 Uhr/12 Uhr/15 Uhr? – oder Tom fährt? – Hotel St. Jacques – Preise für eine Woche oder länger erfragen«.
Er hatte bereits Vorbereitungen für seine Abreise getroffen.
Als sie heute Morgen zu ihm gegangen war, um sich für den gestrigen Abend zu entschuldigen, hatte er erwähnt, dass er fortgehen wollte – und nun sah sie, dass es ihm ernst damit war. Im Grunde hatte sie es von Anfang an geahnt. Sie saß reglos da, mit klopfendem Herzen.
Der Gedanke, ihn noch einmal zu verlieren, war unerträglich.
Sie stand auf; mit zitternden Beinen ging sie zum Fenster und stieß die Läden auf.
Der Wind wehte ihr das Haar zurück, und sie kniff die Augen in dem grellen Sonnenlicht zusammen. Als sie sich wieder umwandte, stockte ihr der Atem.
Das Tageslicht enthüllte, was ihr bisher verborgen geblieben war: Mitten im Raum hingen Bilder zum Trocknen an einer Schnur; ein Wunder, dass sie nicht hineingelaufen war. Er hatte vermutlich beschlossen, vor seiner Abreise sämtliche Aufnahmen zu entwickeln, die er mit seiner Kamera gemacht hatte. Als sie sah, was er fotografiert hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Die Fotos waren ausnahmslos von ihr.
Honor an der Staffelei, im Garten, beim Spaziergang durch den Weingarten; wie sie auf einem Baumstamm neben Sisela saß, Agnes’ Hand hielt, mit Cece lachte; wie sie zum Nachthimmel emporsah, als hätte sie eine Sternschnuppe entdeckt und wünschte sich etwas; wie sie den Arm um Regis’ Schulter legte – und das letzte Foto … Honor, wie sie an der Gezeitenlinie entlangging und Mondsteine sammelte.
Sie erinnerte sich genau, wann das gewesen war – an dem Tag, als sie Johns Brief mit der Ankündigung gefunden hatten, dass er sich auf dem Weg nach Hause befand. Er hatte sich zu dem Zeitpunkt also nicht mehr in Kanada aufgehalten, wie Tom gemeint hatte, sondern war längst hier gewesen.
Er
hatte die Verse in die Wand der Grotte gemeißelt …
Umgeben von den Fotos, die ihr Mann von ihr gemacht hatte, die Notizen in der Hand, die seinen bevorstehenden Abschied ankündigten, in Angst und Sorge um ihre verschwundene Tochter, hatte Honor das Gefühl, ihr müsse das Herz brechen.
Sie tat das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: Sie setzte sich auf Johns Bett, nahm den goldenen Ring mit dem roten Stein aus der Schatulle, die sie vor langer Zeit aus der Mauer gezogen hatten, und steckte ihn an ihren Finger.
Ihr schien, als sei der Raum mit einem Mal von Licht überflutet. Der Ring, einst von Piraten erbeutet, war zu einem Familienkleinod geworden. John war lange fern von ihr gewesen, nun war er ihr nahe, war nach Hause zurückgekehrt. Bernie hatte erkannt, dass sie vor der Wahrheit geflohen war, um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen – Honor hatte es in der Grotte gespürt. Gleich welchen Weg ein Mensch eingeschlagen hatte, es war nie zu spät, den Kurs zu wechseln.
Doch zuerst mussten sie Regis finden.
»Er ist es«, sagte Tom. Die Grotte war durchwoben von Licht und Schatten.
Bernies Augen schweiften umher, sie mied krampfhaft seinen Blick. »Das ist unmöglich. Wie sollte er hierhergekommen sein, von Dublin?«
»Ich weiß es nicht, Bernie. Aber das Alter dürfte stimmen. Und die Haare – genau wie deine. Deine Haare sind doch noch immer feuerrot, nicht wahr? Unter dem Schleier?«
»Viele Leute haben rote Haare.«
»Du hast gehört, was Agnes gesagt hat. Er wurde adoptiert.«
»Tom – wenn du dich hören könntest! Er ist nicht der einzige adoptierte junge Mann in ganz Connecticut! Und Connecticut ist weit, weit von Irland entfernt!«
»Was soll das?« Tom packte sie an den Schultern. »Warum weigerst du dich, mir zuzuhören, die Möglichkeit wenigstens in Erwägung zu ziehen?«
»Weil ich nicht kann, und du solltest das Thema auch ruhen lassen. Zum einen träumst du, zum anderen führt er sein eigenes Leben. In das wir uns nicht einmischen dürfen!« Bernie zitterte, obwohl die Temperatur an die dreißig Grad betrug, selbst im Schatten der Grotte.
Sie wollte Tom nichts von ihren Träumen erzählen oder von der Stimme, die sie unlängst gehört hatte: das Lachen eines kleinen Jungen, der auf dem Rücken eines
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