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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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anhielt. Doch als er ihr den Ring der Piraten überreichen wollte, wies sie sein Geschenk zurück. Sie hasste die Habgier und Gewalttätigkeit, die mit den Piraten über ihre Familie gekommen war, und bat Seamus, den Ring ins Meer zu werfen.
    Seamus wusste, dass er es hätte tun sollen. Er wollte Emily unbedingt alles recht machen. Doch auch seine Familie hatte unter der Armut und dem Elend der ersten Hungersnot gelitten. Zwei seiner Brüder und seine Mutter, schwanger mit seiner Schwester, seine Tante und seine Cousine, ein Nachbar und ein Freund der Familie waren an den Folgen des Hungers gestorben. Und so beschloss Seamus, den Ring zu behalten – und erzählte Emily, er hätte ihn bei Ballincastle ins Meer geworfen.
    Er heiratete seine geliebte Emily, und sie ahnte lange Zeit nicht, dass er sie belogen hatte. Als ihr Vater starb, übernahmen sie den Bauernhof; dort lebten sie mit ihren acht Kindern – der älteste Sohn war Johns Urgroßvater Cormac. Vielleicht betrachtete Seamus den Ring als eine Art Notgroschen. Oder als Glücksbringer – denn schließlich hatte er ihm die Zuneigung und das Vertrauen der Familie Dargan und die Hand von Emily eingebracht.
    Dann, 1847, schlug die zweite Hungersnot zu.
    Damals wanderten so viele Iren nach Amerika aus, dass es schien, als bliebe kaum jemand zurück. In hellen Scharen strömten die Menschen zu den Dampfern, die im Hafen von Cobh ablegten und nach Boston, Providence und New York fuhren. Die Nachrichten, die in der alten Heimat eintrafen, waren immer gut – niemals unerfreulich. In Amerika fristeten die Leute kein kümmerliches Dasein, sondern es ging ihnen hervorragend. Sie hatten nicht nur ihr Auskommen, sondern brachten es zu Wohlstand.
    Seamus wusste, dass er Cormac, seinen einzigen Sohn, retten musste. Er hatte erfahren, dass es in den Vereinigten Staaten Arbeit für ihn gab. Die Kellys vom Merrion Square in Dublin brauchten Steinmetze, um Mauern auf ihren Anwesen in Hartford und Black Hall, Connecticut, zu errichten. Der Gedanke an die bevorstehende Trennung brach Seamus und Emily das Herz, aber sie hatten miterlebt, was die letzte Hungersnot angerichtet hatte, und konnten es nicht ertragen, sein Leben aufs Spiel zu setzen.
    Die Eltern begleiteten Cormac, als dieser über die Hügel zur alten Postkutschenstraße ging. Sein Koffer enthielt nur wenige Habseligkeiten, doch in seinem Herzen bewahrte er die Liebe seiner Familie und alles, was ihm sein Vater als Steinmetz beigebracht hatte. Als die Postkutsche kam, griff der Vater in seine Tasche und holte den Piratenring hervor.
    »Das ist dein Erbe«, sagte Seamus. »Ein Geschenk deines Großvaters, auf dessen Land ich ihn gefunden habe, vor vielen Jahren. Er ist kostbar, weil er deine Mutter und mich in gewisser Hinsicht zusammengebracht hat. Solltest du dich irgendwann einmal harten Zeiten gegenübersehen, kannst du ihn verkaufen.«
    Emily verlor niemals ein Wort darüber, dass Seamus den Ring behalten hatte. Sie sorgte sich nur um ihren Sohn, und ihr war alles recht, was ihm den Start in ein neues Leben erleichtern konnte. Sie hielt die Tränen zurück, bis die Postkutsche kam und Cormac einstieg. Ihr hübscher, hoffnungsvoller Junge, noch ein halbes Kind und so mager … Als die Kutsche abfuhr, ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und das Heulen des Windes, der über die Berge im Westen fegte, vermischte sich mit ihrer Klage um den einzigen Sohn.
    Er war erst sechzehn, und sie sollte ihn nie wiedersehen.
    Honor wusste das alles aus Emilys Tagebuch, das John schließlich neben anderen Familiendokumenten im West Cork Heritage Center gefunden hatte. Es hatte ihn nach Cobh geführt, in den Laderaum der Hungersnotschiffe, in dem so viele Tränen vergossen worden waren. Und dort, auf den Docks, war er Gregory White begegnet.
    Während Honor an ihrer Staffelei stand und über die Vergangenheit nachsann, hörte sie plötzlich ein seltsames Geräusch. Es klang wie das Läuten einer Totenglocke. Aber es war dumpf und metallisch, nicht hell und klar wie die Glocke der Kapelle, und es schien vom Strand zu kommen. Sie legte den Pinsel beiseite, reinigte sich die Hände mit einem Stück Stoff, das mit Leinöl getränkt war, und öffnete die Fliegengittertür.
    Das Geräusch führte sie nach draußen; sie überquerte barfuß den Hof und hatte das Gefühl, als träfe sie jeder Hammerschlag mitten ins Herz. Sie wusste, wohin sie ihre Schritte lenken musste. Es war, als folgte sie Johns Ruf. Sie eilte über den Rasen, den

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