Wie Sand in meinen Händen
Watt herüber.
Honor folgte der Steinmauer, und mit jedem Schritt klopfte ihr Herz schneller. Sie erschrak, als sie einen Rotfuchs aufscheuchte; er flüchtete sich auf die Mauer und lief ein paar Schritte, bevor er auf der anderen Seite heruntersprang. Als sie sich dem Kamm des Hügels näherte und hinunter auf den Strand sah, wusste sie bereits, was sie erwartete.
Der Felsen war verschwunden.
Eine einzige Nacht – länger hatte John nicht gebraucht, um zu zerstören, was vor einer Million Jahre durch Feuer und Eis geschaffen wurde – den Findling, an dem sich seine Tochter verletzt hatte. Der Lärm des Vorschlaghammers war endlich verstummt. John saß am Strand, betrachtete die Sonne, die über der friedvollen Bucht aufging. Honor stand auf dem Hügel und beobachtete ihn eine Weile.
John saß reglos da, vertieft in Gedanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn bewegte, doch in diesem Augenblick hätte sie alles darum gegeben, es zu wissen. Als er sich weder umdrehte noch rührte, machte sich Honor wortlos auf den Rückweg.
Sie ging durch den üppigen grünen Weingarten, nach Hause, zu ihren schlafenden Töchtern.
[home]
11. Kapitel
D ie Zeit verging für John anders als früher. Im Gefängnis war sie in Viertelstunden unterteilt gewesen. Wecken, Mahlzeiten, Zählappell, Arbeit, Körperertüchtigung, Pritsche. Hier wurde sie an den Gezeiten, am Sonnenaufgang, am Wetterwechsel und am Mond gemessen, der am Himmel seine Bahnen zog. Dennoch hielt er fortwährend nach Honor Ausschau, wünschte sich, sie käme zurück, um zu sehen, was er mit dem Felsen gemacht hatte. Gleichzeitig fürchtete er, dass er ihr Angst eingejagt haben könnte. Er war sogar über sich selbst erschrocken.
Er war weißglühend vor Zorn wie ein Berserker auf den Felsen losgegangen. Seine Rücken- und Schultermuskeln waren verspannt und schmerzten, brannten wie Feuer. Seit er Agnes im Krankenhaus besucht hatte, war ihm klar gewesen, dass er dies tun würde. Honor hatte ihm immer vorgehalten, dass er sich oft von seinen Gefühlen hinreißen ließ und über das Ziel hinausschoss, und nun wurde ihm bewusst, dass sie recht hatte. Ihr Kummer war augenfällig; ihr Zorn darüber, dass er sie im Stich gelassen hatte, verwirrt und voller Zweifel, als er kampflos ins Gefängnis gegangen war, hatte seine eigene Wut geschürt. Nicht auf sie, sondern auf Gott und die Welt.
Sein Hass auf den Felsen, an dem sich Agnes verletzt hatte – und auf alles andere, was seine Töchter durch seine Haft erleiden mussten –, war übermächtig geworden und hatte ihn dazu gebracht, seine ganze Frustration an dem Felsen abzureagieren. Als er nun den Schutthaufen im seichten Wasser betrachtete, wagte er nicht daran zu denken, was Honor davon halten würde.
Miau
…
Er sah sich um und gewahrte eine magere weiße Katze auf der Mauer. Sie saß reglos da und war offensichtlich alt, wie er an ihren Augen und ihrem Fell erkannte. Der Anblick versetzte ihm einen Stich.
»Sisela.«
Das war doch nicht möglich …
Nein, dachte John mit klopfendem Herzen, als er sich langsam der Mauer näherte. Es konnte nicht Sisela sein; es musste sich um irgendeine Katze handeln, die ihr ähnlich sah. Vielleicht hatte sie Nachwuchs bekommen. Oder er sah Gespenster.
Sie miaute abermals, und beim Öffnen des Mauls sah er, dass sie nur noch wenige Zähne hatte. Die Katze war allem Anschein nach uralt. Er streckte die Hand aus. Sie kam nicht langsam näher, sondern sprang mit einem Satz in seine Arme – genau wie früher, als sie klein gewesen war.
»Sisela.«
Regis hatte immer gesagt, die Katze sei die vierte Sullivan-Schwester, was John in diesem Moment genauso empfand. Er wiegte die alte Katze in seinen Armen, und sie schnurrte an seiner Brust. Sie reckte den Hals, rieb ihren Kopf an seinem Kinn. Johns Augen brannten, als er sie streichelte und an die Jahre der Trennung dachte. Wie oft hatte er seine Töchter in den Armen gehalten, und wie oft hatte sich Sisela zwischen sie gedrängt.
»Ein Bild für die Götter.«
Beim Klang der Worte hob John den Blick; Tom stand vor ihm und grinste.
»Das ist wirklich Sisela, oder?«
»Deine alte Katze meinst du? Ja, ganz recht. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeigekommen bin, hockte sie auf der Mauer. Muss darauf gewartet haben, dass du nach Hause kommst. Es ist schön, dich wiederzusehen, John.«
»Das habe ich dir zu verdanken.« Sisela blieb bei ihm, an seine Brust geschmiegt. Ihre Nähe war tröstlich – ob für ihn oder
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