Wie Sand in meinen Händen
betrachtend.
Agnes war seltsamerweise froh, als sein Blick zu ihr zurückkehrte und er nicht weiter auf Regis’ merkwürdige Frage nach der Klette einging.
»Ich werde dafür sorgen, dass sich die Stationsschwestern gut um dich kümmern«, versprach er.
»Konntest du die Sache mit deinem Dienstplan klären?«, fragte Regis.
»Ja. Kein Problem.«
»Komisch. Die meisten Leute
verpassen
ihren Dienst und tauchen nicht plötzlich auf, um eine Extraschicht zu schieben. Aber was soll’s, Engel sind wahrscheinlich daran gewöhnt, Überstunden zu machen, oder?«
Brendan schüttelte verwirrt den Kopf. »Wenn du meinst. Ich schaue später noch einmal bei dir vorbei, einverstanden, Agnes?«
Agnes nickte stumm. Sie hielt das Schneckengehäuse in der Hand.
»Klar«, antwortete Regis an ihrer Stelle. »Schau ruhig vorbei.«
Brendan verließ den Raum. »Er mag dich«, sagte Regis und lächelte auf Agnes herab.
»Weil ich gestern Nacht seine Patientin war.«
»Du hättest sehen sollen, wie er bei dir Wache gehalten hat. Die Nachtschwester kam herein und war völlig verdattert, weil er da war, obwohl er gar keinen Dienst hatte. Als hätte er geahnt, dass du eingeliefert wirst. Kennst du ihn von irgendwoher?«
»Nein. Ich habe ihn gestern Nacht zum ersten Mal gesehen.«
»Er trug Jeans unter seinem Kittel und hatte eine Klette am Saum. Ich möchte wetten, dass sie aus dem Dickicht zwischen dem Strand und dem Weingarten stammte.«
»Was mag er da gewollt haben?« Agnes runzelte die Stirn. Ihr Kopf schmerzte, während sie sich Regis’ Theorien anhörte. Sie waren so konkret und handfest.
»Vielleicht hat er nach der großen Liebe seines Lebens Ausschau gehalten … und vielleicht bist du das.«
Agnes holte tief Luft, wobei ihre Rippen schmerzten. »Sei lieber still. Erinnerst du dich nicht?«
Regis schwieg, was selten vorkam. Agnes hob den Blick und sah, dass sich Regis sehr wohl erinnerte. »Das hat Dad immer gesagt. Dass Mom seine einzige wahre Liebe war.«
»Ich weiß.« Regis nahm Agnes’ Hand, behutsam, wie einen Vogel mit gebrochenen Schwingen. Sie streichelte sie sanft.
»Dad ist wieder zu Hause«, fuhr Agnes fort. »Er hat die große Liebe seines Lebens gestern Abend wiedergesehen.«
Regis blieb stumm.
Agnes tat alles weh. Der Doktor hatte gesagt, das sei eine Folge der Wiederbelebungsmaßnahmen, ihre Rippen wären dabei arg in Mitleidenschaft gezogen worden und um ein Haar gebrochen. Ihr Vater hatte die Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihr durchgeführt. Sie verdankte ihm ihr Leben. Das Ganze kam ihr wie ein Wunder vor; aber warum musste es bloß so tragisch sein? Verwirrt brach sie abermals in Tränen aus.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Regis verdutzt.
»Das ist es nicht«, schluchzte Agnes. »Mir tut alles so weh.«
»Du wirst bald gesund. Mom spricht gerade mit den Ärzten, aber sie haben es ihr bereits gesagt – morgen wirst du entlassen. Und wenn du erst zu Hause bist, fühlst du dich gleich besser.«
»Darum geht es nicht.«
»Was dann?«
»Warum ist Dad nicht hier?«
Regis schwieg. Agnes wusste, dass ihre Schwester glaubte, sie könnte die Wahrheit nicht verkraften. Als sie gestern Nacht, bevor sie in den Krankenwagen geschoben wurde, immer wieder für kurze Zeit aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gehört, wie ihre Mutter ihren Vater anschrie – sie schrie aus Leibeskräften, als wollte sie Feuer spucken.
»Sie hat ihm verboten, mich zu besuchen, stimmt’s?«
»Es ist eher so, dass er sich zurückhält. Er möchte niemanden aufregen. Das Wichtigste für ihn ist, dass du wieder gesund wirst. Er wartet ab, ob du heute nach Hause darfst. Er denkt nur an dein Wohl.«
Es stimmte Agnes unendlich traurig, dass ihr Vater so nahe war und gleichzeitig so fern. Was mochte er bei dem Gedanken empfinden, dass er als Einziger ausgeschlossen war? Agnes weinte. Warum erkannten ihre Eltern nicht, wie wichtig es war, wieder eine richtige Familie zu sein?
»Weißt du, woran ich gerne denke?«, sagte Regis. »Wie glücklich Dad sein wird, wenn er Sisela sieht. Er hat sie sehr geliebt, findest du nicht?«
Aber Agnes konnte nicht antworten. Sie umklammerte das Schneckengehäuse, das Brendan ihr geschenkt hatte, dachte an ihren Vater und bemühte sich, die Fassung zu bewahren.
Am Abend lieh sich John den Kombi der Nonnen aus, um ins Krankenhaus zu fahren. Bernie hatte ihm erzählt, dass sie Agnes über Nacht sicherheitshalber dabehalten wollten. Es war ein seltsames Gefühl,
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