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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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nach so langer Zeit wieder die vertrauten Straßen entlangzufahren. Die gleiche Strecke hatte er in der Nacht zurückgelegt, als Agnes geboren wurde – bei der Geburt aller seiner drei Töchter, genauer gesagt.
    Er parkte den Wagen auf dem Besucherparkplatz; eine stetige Brise wehte vom Hafen herüber. Er betrat das Gebäude durch den Haupteingang und bemerkte, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte. Der Putz an den Wänden und die Linoleumböden erinnerten ihn daran, dass er sich in einer Anstalt befand; sie lösten eine Reaktion aus, die tief in seinen Eingeweiden entstand und die er abzuschütteln versuchte, indem er die Treppe hinauflief.
    Als er Agnes’ Zimmer betrat, hatte er nur noch Augen für seine Tochter. Sie lehnte gegen ein weißes Kissen, mit bandagiertem Kopf, hatte die Augen geschlossen. Honor und ihre Schwestern, die sie früher am Abend besucht hatten, waren gegangen; sie war allein.
    »Agnes, Schatz«, flüsterte er.
    Ihre Lider flatterten, sie öffnete die Augen. »Daddy!«
    »Wie geht es dir?«
    »Ich habe Kopfweh.«
    »Das tut mir leid. Aber das wird vergehen. Du hast uns Sorgen gemacht.«
    »Ich habe den Felsen nicht gesehen«, murmelte sie; Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln.
    »Die Flut wird ihn verdeckt haben.«
    »Es tut mir leid, dass ich euch Sorgen gemacht habe. Und dass ich gegen den Felsen geprallt bin …«
    »Du musst dich nicht entschuldigen, Agnes. Hauptsache, du wirst wieder gesund, das ist das Wichtigste.«
    Sie nickte, aber ihre Schultern zuckten, und sie brach in hilfloses Schluchzen aus. Es war alles zu viel für sie gewesen. John setzte sich auf die Bettkante und nahm sie behutsam in die Arme. Sie weinte an seiner Brust, ihre Tränen durchnässten sein T-Shirt. Er dachte an den tückischen Findling, der in die Bucht hineinragte und seiner Tochter beinahe das Leben gekostet hätte.
    »Du brauchst Ruhe«, flüsterte er.
    »Geh nicht weg, Dad.« Sie weinte leise vor sich hin, die Fäuste geballt wie ein kleines Kind. »Geh nicht, bevor ich eingeschlafen bin.«
    »Ich bleibe, Agnes. Das verspreche ich dir.«
    Und das tat er; er blieb, bis sie eingeschlafen war, und noch lange danach, nur um sicherzugehen.
     
    Am nächsten Tag, als Agnes wieder zu Hause und wohlbehalten in ihrem Bett lag, stand Honor mit Ölfarbe bedeckt im Atelier. Dass sie seelenruhig dastehen, die Leinwand vorbereiten, Farben anmischen und sich an die Arbeit machen konnte, nachdem Agnes nur knapp dem Tod entgangen war, erstaunte sie. Doch als sie gestern Abend zu Bett gegangen war, ausgelaugt vor Sorge, Erleichterung und einer Million anderer widersprüchlicher Empfindungen, hatte sie nicht einschlafen können – und die ganze Nacht kein Auge zugetan.
    Ständig sah sie John vor sich. Klatschnass, voller Sand, hob er Agnes auf seine Arme … Alles kam ihr so unwirklich vor. Dieses Bild hatte sie die ganze Nacht verfolgt, aber es änderte sich. Zuerst hatte er Agnes in seinen Armen gehalten, dann Regis.
    Sie war geradezu in ihr Atelier gerannt, um es zu malen. Der stetige Fluss der Farben und Formen sorgte dafür, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die Leinwand statt auf ihre Tochter konzentrierte, die im Krankenhaus lag.
    Sie trug mit dem Pinsel Farbe auf die Leinwand auf und malte, zunächst in groben Umrissen, John mit seiner Tochter auf den Armen. War es Regis oder Agnes? Sie hätte es nicht einmal sagen können, und es spielte vermutlich auch keine Rolle. Es ging darum, ihren überströmenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie musste seine Sanftheit in ihrem Bild einfangen, aber auch seine Stärke und die dunkle Seite seines Wesens, die so viel Unheil angerichtet hatte; sie durfte nichts davon auslassen.
    Nun kam der Hintergrund, der Fluchtpunkt, an die Reihe: der Gipfel des Hügels, gekrönt von der alten Steinmauer. Sie senkte den Pinsel. Warum malte sie die Mauer ausgerechnet
jetzt
? Aber sie konnte sie nicht weglassen.
    Mit breitem Pinselstrich verlieh sie den Steinen eine rundere Form, sprenkelte sie mit weißen Farbtupfern, machte die Konturen durch Flechten weicher. Sie sparte eine dunkle Stelle aus, das Loch in der Mauer, wo die Schatulle versteckt gewesen war.
    Was für eine Schnitzeljagd hatte dieses Schatzkästchen ausgelöst! Sie hatte den Fahrkartenabschnitt, einen goldenen Ring, eine Todesurkunde und eine von Hand gezeichnete Landkarte von Irland enthalten, mit Orten, die Cormac Sullivan besonders lieb und teuer gewesen waren: die beiden Grafschaften Cork und Kerry, deren

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