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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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den Kopf. Warum du sang- und klanglos ins Gefängnis gegangen bist … du bist einfach halsstarrig. Das warst du schon immer.«
    »Ich habe Gregory White getötet.« Seine Stimme klang beherrscht, doch seine Augen funkelten.
    »Das weiß ich. Und ich weiß, dass er dich angegriffen hat. Erklär es mir irgendwann, ja? Erklär mir, was du dir dabei gedacht hast, die Haftstrafe auf dich zu nehmen, ohne ein einziges Wort zu deiner Verteidigung zu sagen.«
    »Honor …«
    »Und dann werde ich dir erzählen, was für Folgen dein Verhalten für die Mädchen hatte. In Ordnung?« Sie war außer sich. Der Zorn hatte schon im Atelier kaum merklich in ihr geschwelt, als sie an der Staffelei stand und malte, doch nun kochte sie vor Wut. »Sie waren verzweifelt. Sie haben dich unsäglich vermisst. Ich habe keine Ahnung, ob sie jemals darüber hinwegkommen. Regis will heiraten? Kein Wunder, sie hatte keinen Vater, an den sie sich halten konnte, also hat sie sich an den erstbesten Jungen geklammert. Mit Cecilia geht es einigermaßen. Sie war noch zu jung, als das alles passierte. Und Agnes? Mein Gott, wo soll ich da nur anfangen?«
    »Agnes?«
    »Sie hat Visionen. Ja, du hast ganz richtig gehört. Sie weiß von Bernies Marienerscheinung und brennt darauf, die gleiche Erfahrung zu machen. Sie hat ein Schweigegelübde abgelegt, spricht nicht an Dienstagen, weil das der Tag ist, an dem du Greg White getötet hast.«
    »Oh Gott.«
    Sie machte unvermittelt kehrt und begann zu laufen. Er rannte ihr nach, packte ihren Arm. Sein Blick machte ihr Angst – die Haut spannte sich über dem Schädel, und seine Augen sprühten Feuer.
    Ihre Blicke trafen sich für ein paar Sekunden; sie entdeckte etwas darin, was sie von früher kannte. Einen Hoffnungsschimmer, der von seinem Glauben zeugte, dass letztlich doch noch alles gut werden würde, gut werden
musste.
Sie hatte sich verausgabt und bereute beinahe, dass sie die ganze Schuld auf ihn abgewälzt hatte. Sie sah die Tränen in seinen Augen, sah, wie sehr er gelitten hatte. Sie wartete auf eine Erklärung, doch er seufzte nur vor qualvoller Frustration und drehte sich wortlos um.
    Er kehrte zu dem Felsen zurück, ergriff abermals den Vorschlaghammer. Er holte aus, ging auf den Felsen los, als wäre er sein Feind. Und wieder ertönte das Geräusch, das sie an eine Totenglocke erinnert hatte – dumpfe Schläge, Metall auf Stein.
    »John, was machst du da?«, schrie sie.
    »Der Felsen muss weg«, rief er ihr über die Schulter zu, während er wieder und wieder den Hammer schwang. »Er hat Agnes verletzt.«
    »Das ist ein Felsen! Der löst sich nicht in Luft auf!«
    Er antwortete nicht einmal – wie besessen machte er weiter. Seine Muskeln waren angespannt und traten hervor, er schlug auf den Felsen ein, als hätte er eine persönliche Rechnung mit ihm zu begleichen. Funken flogen. Honor wich zurück, erschrocken und sprachlos, gleichermaßen von Mitleid und Entsetzen erfüllt.
    Als sie sich weiter zurückzog, sah sie, wie versunken er in seine zerstörerische Arbeit war. Seine Leidenschaft und Wut machten ihr erneut bewusst, dass sie diesen Mann von jeher geliebt und bisweilen gefürchtet hatte. Alles war noch genau wie früher; nichts hatte sich wirklich geändert. Während des ganzen Heimwegs waren die erbarmungslosen Hammerschläge zu hören, die weder verstummten noch an Stärke nachließen.
    Sie setzten sich die ganze Nacht fort.
    An Schlaf war nicht zu denken.
    Schließlich gab Honor auf und ging in ihr Atelier. Sie hatte das dringende Bedürfnis zu malen, und die Arbeit ging ihr rasch von der Hand. Trotz aller Wut auf John konnte sie nicht leugnen, welche Wirkung seine Anwesenheit auf ihre Arbeit hatte. Das Bild, das nun entstand, war urwüchsig, kam aus ihrem tiefsten Inneren, nicht zu vergleichen mit den filigranen Meerlandschaften und Porträts, die sie als Anschauungsmaterial für den Kunstunterricht malte. Vom Fenster aus konnte sie die Sterne sehen, die am Firmament ihre Bahnen zogen, auf- und untergingen, während John mit immer wiederkehrenden Schlägen den Felsen zertrümmerte.
    Als die Sonne im Osten wie ein rosarotes Band am Horizont erschien und dem Himmel eine tiefblaue Färbung verlieh, legte Honor den Pinsel aus der Hand. Sie war erschöpft, aber im Einklang mit sich und der Welt. Dunstschleier hüllten die Erde ein. Sie trat zur Hintertür hinaus, schlenderte durch den Weingarten. Vögel zwitscherten bereits in den Bäumen, und die Schreie der Seemöwen drangen vom

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