Wie Sand in meinen Händen
Leute, die bezeugen können, wie er diesen Mann bedroht hat. Die Kopfverletzung stammt nicht vom Sturz. Sie haben es ja gehört. Das war ein Geständnis.«
Sie brachten John und Regis den schmalen Pfad entlang, der vom Felsvorsprung den Hügel hinaufführte, vorbei an der zerstörten Skulptur. Honor schloss Regis in die Arme, deren Schluchzen einem erstickten Wimmern glich, während der Wind in ihren Ohren heulte, der Regen ihre Gesichter peitschte und John abgeführt wurde.
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1. Kapitel
S echs Jahre waren inzwischen vergangen, und manchmal schien es, als sei John für immer aus ihrem Leben entschwunden. Es war nicht auf einmal geschehen: Zuerst waren sie so oft nach Irland geflogen wie möglich, doch mit der Zeit waren die Besuche seltener geworden. Er schrieb den Mädchen Briefe, und sie schrieben zurück. Doch was Honor betraf, stand die Geschichte auf einem anderen Blatt. Sie hatte den Briefwechsel mit ihm vor einem Jahr eingestellt. Es gab so wenig, was sie ihm noch zu sagen hatte.
Als Honor an jenem Spätsommertag im Morgengrauen aus diesem besonderen Traum erwachte, fühlte sie sich wie gelähmt und konnte nicht mehr einschlafen. Eine frische, salzige Brise wehte zum Fenster herein, und sie stand auf, warf einen Blick auf ihre schlafenden Töchter, fütterte Sisela, die Katze, machte Kaffee und ging durch den Weingarten zum Strand hinunter. Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, der Schulbeginn im September warf seine düsteren Schatten voraus.
Die Sterne standen immer noch am Himmel, winzige strahlend weiße Feuer am nachtblauen Firmament. Honor betrachtete sie, fröstelte in der frühmorgendlichen Kühle. Inzwischen hellwach, versuchte sie sich zu besinnen, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Die überaus realen Hochzeitspläne ihrer Tochter Regis füllten ihre wachen Stunden mit Sorgen und Listen aller Dinge, die noch zu erledigen waren – doch nach dem Traum der letzten Nacht verblassten sie.
Es war ein John-Traum gewesen. Er war ihr unter die Haut gegangen, sie erinnerte sich an jede Einzelheit. An den Druck seiner Hand auf ihrem Rücken, seine Lippen an ihrem Ohr, die ihr ein Geheimnis zuflüsterten. Im Traum hatte sie Anstalten gemacht, zu lächeln. Bis zum Ende hatte der Klang seiner Stimme in jeder Faser ihres Körpers und Geistes ein Glücksgefühl hervorgerufen. Möglicherweise hatte sie von Irland geträumt, von dem Schlafzimmer im Cottage und dem Augenblick, bevor alles zu Ende war. Sie sehnte sich nach diesem Gefühl der Nähe zurück, mehr als nach allem anderen.
Barfuß ging sie über den kühlen harten Sand zum Meeresufer. Das weiße geknöpfte Nachthemd streifte ihre Knöchel, als ihre Füße in das seichte Wasser eintauchten. Das Plätschern schreckte einen Silberreiher auf, der am Ende der Bucht zwischen den Felsen gestanden hatte und sich nun mit gemessenen Schlägen seiner weißen Schwingen in die Lüfte erhob, anmutig, an etwas Prähistorisches erinnernd.
Es herrschte Ebbe, der Wasserstand war extrem niedrig. Honor blickte zum Himmel empor, und ihr fiel ein, dass die letzte Nacht mondlos gewesen war.
»Neumond und Vollmond haben irrwitzige Auswirkungen auf das Meer«, hatte John ihr eines Abends vor langer Zeit erklärt, als sie am Meeresufer spazieren gegangen waren. Letzte Nacht, im Traum, war ihr alles so real erschienen – jedes Wort und jede Berührung waren ihr nun wieder gegenwärtig. Sie waren dreiundzwanzig und bis über beide Ohren verliebt gewesen.
Ihr Traum – und der Spaziergang vor zweiundzwanzig Jahren, als sie mit ihrer Lehrtätigkeit an der Kunstakademie von Star of the Sea begonnen hatte – hatte nicht im Morgengrauen, sondern in der Abenddämmerung stattgefunden, wenn der Himmel jeden Lichtschimmer verschluckte, ihn den Wellen und dem harten, silbrigen Sand entzog. John hatte seine Kamera gezückt, wie immer bereit, alles im Bild festzuhalten, was ihn interessierte. Und während des Strandspaziergangs war er zur Abwechslung einmal in Sicherheit. Es gab nicht viele Risiken, die er an einem lauen Sommerabend eingehen konnte, während Honor seine Hand hielt.
»Neumond und Vollmond beeinflussen die Gezeiten, das Absinken und Ansteigen des Meeresspiegels bei Ebbe und Flut«, sagte Honor. »Springtiden und Nipptiden …«
»Bei entsprechendem Wind läuft die Flut höher auf; das Wasser füllt die Marsch, lässt Flüsse über die Ufer treten und kann bis zur Haustür steigen.« Er war stehen geblieben und blickte auf das Wasser hinaus. Dann
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