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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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ging er in die Hocke, hob die Kamera vors Auge und stellte das Objektiv ein. »Und bei einer Nipptide wie dieser tauchen Sandbänke auf, die sich sonst das ganze Jahr über unter Wasser befinden.«
    Sie hörte den Verschluss klicken, während er seine Aufnahmen machte. Als sie Kinder waren und ihre Familie in Hubbard’s Point und seine auf dem Anwesen von Star of the Sea gewohnt hatten, hatte derselbe wilde, lange Strand des Barriereriffs – an dem sie nun spazieren ging und von dem sie geträumt hatte – ihre beiden Elternhäuser miteinander verbunden.
    Nach einem Wintersturm hatte einmal eine Nipptide mit extrem niedrigem Wasserstand den hölzernen Rumpf eines Schiffes aus dem amerikanischen Freiheitskrieg freigelegt. Honor, John, seine Schwester Bernadette und Tom hatten ihn entdeckt und die Nonnen von ihrem Fund in Kenntnis gesetzt. Ein Archäologe aus der Umgebung hatte ihn in Augenschein genommen und versucht, so viele Daten und Informationen wie möglich zu gewinnen, doch nach drei Tagen, als sich der Wasserstand wieder normalisiert hatte, war das Wrack verschwunden.
    »Glaubst du, dass irgendwann irgendjemand hier war, um das Schiff zu suchen?«, fragte sie.
    »Möglich, aber solche Schätze zählen für mich nicht. Mich interessieren nur solche, auf die man rein zufällig stößt.«
    »Wie die Eisfelder auf dem Mount Robertson, den du letzten Winter bestiegen hast, um sie zu fotografieren. Und die Bärenhöhle, in die du praktisch hineingekrochen bist –«
    Er blickte sie an, schüttelte den Kopf. Dies war die Art, wie sie miteinander umgingen, es war wie ein Tanz – John liebäugelte mit der Gefahr, um der Natur näher zu sein und die Aufnahmen zu machen, die er sich wünschte, und Honor zog ihn damit auf. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie diese Eigenschaft besonders spannend an ihm fand und ihn niemals von seinen Abenteuern abhalten würde, solange er unversehrt zurückkehrte.
    Er reichte ihr seine Kamera. Sie war schwer, und sie musste sie mit beiden Händen festhalten, um sie nicht fallen zu lassen. John, barfuß, die Kakihosen hochgerollt, die Haare vom Wind zerzaust, bückte sich und hob etwas auf, das Sternen glich.
    Mondsteine.
    Weit draußen im Watt gelegen, lange unter Wasser und nur durch die Gunst des Neumonds aufgetaucht, waren die Kieselsteine glatt, von einem schillernden Weiß und kaum größer als ein Fingernagel. Sie lagen auf dem dunklen Sand, fingen die letzten Lichtstrahlen ein, schimmernd wie Sterne, die vom Himmel gefallen waren. Sie hätte die Szene gerne gemalt, im gleichen Stil wie van Gogh in dem Jahr, als er sich in einer Irrenanstalt befand – mit mitternachtsblauen und goldenen Streifen und einem magischen Nachthimmel. Inspiration war eine Art Verrücktheit, und es gefiel ihr, wie verrückt John und sie sein konnten, wie sie sich gegenseitig inspirierten.
    Als John genug davon hatte, an der Gezeitenlinie umherzustreifen, kehrte er zu ihr zurück. Er nahm ihr die Kamera ab, hängte sie am Riemen über seine Schulter und schloss sie in die Arme. Er sah sie an, mit glänzenden Augen, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sein Gesicht war stets voller Geheimnisse gewesen, doch an jenem Abend hatte er offen gewirkt, hatte ihr allein gehört.
    »Honor«, hatte er gesagt.
    »John«, hatte sie geantwortet.
    Er hatte sie in den Armen gehalten und sich sanft mit ihr hin und her gewiegt, als bewegten sie sich im Einklang mit den Gezeiten. Sie hatte das Gefühl, als wäre der eine ein Teil des anderen; so war es immer gewesen, seit frühester Kindheit. Er küsste sie, und sie schmolz dahin. Dann tastete er nach ihrer Hand.
    »Honor«, sagte er abermals.
    Dann fügte er hinzu: »Lieben, ehren und im Herzen tragen.«
    »Was?«
    »Das werde ich tun. Dich lieben und in meinem Herzen tragen, das schwöre ich dir …«
    Sie wusste, was er meinte, ohne zu wissen, wie sehr sich seine Worte bewahrheiten sollten. Sie hatte ihn so sehr geliebt, und so lange. War das der Augenblick, von dem sie immer geträumt hatte? An dem Strand, den sie beide liebten, barfuß und voller Sand, die Hosenbeine hochgekrempelt und nass?
    »Willst du meine Frau werden?« Er nahm ihre Hand und legte die Mondsteine hinein, die er gesammelt hatte.
    »Oh John –«
    »Ich kann mir noch keinen Ring leisten. Aber ich liebe dich, Honor. Ich werde dich immer und ewig lieben. Willst du meine Frau werden?«
    »Ja, John!« Sie umklammerte die Mondsteine und schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn,

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