Wie Sand in meinen Händen
kühle Brise wehte vom Meer herüber, strich durch das Gras, das auf der Böschung am Strand wuchs. Ein Laut, der wie eine flüsternde menschliche Stimme anmutete und sie bewog, darauf zuzugehen. Sie sah Sisela über die Steinmauer huschen, die zur Akademie führte, eine der Mauern, die von Johns Vorfahren errichtet worden waren.
Als sie aus dem Schatten trat, sah sie, dass jemand auf sie zugelaufen kam. Groß und schlank, mit langen Beinen und kräftigen Schultern. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sein Gesicht vor sich sehen, seine blauen Augen, die sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Doch es war überflüssig, sich zu erinnern, weil sie diese Augen jeden Tag vor sich sah. Bei ihrer zwanzigjährigen Tochter Regis.
»Mom«, rief Regis, die den Strand entlangkam und irgendetwas in der Luft schwenkte.
Was mag das sein?, überlegte Honor mit klopfendem Herzen. Regis beschleunigte ihren Schritt, obwohl Honor mit Fug und Recht behaupten konnte, nie gesehen zu haben, dass ihre Tochter ein normales Tempo anschlug. Regis befand sich bei allem, was sie tat, auf der Überholspur.
»Was ist? Was hast du da?«
»Oh Mom.« Regis hielt den blauen Umschlag in die Höhe. »Lies! Er ist an dich adressiert.«
Honors Hand zitterte. Sie umklammerte die Mondsteine so fest, dass sie sich in ihre Handfläche pressten und einen Abdruck hinterließen. Die Sonne ging soeben auf, ihr Licht fiel auf den Strand. Regis starrte den Umschlag an, auf dem Honors Name in Johns Handschrift stand.
»Wo hast du den her?«
»Er steckte in der Fliegengittertür.«
Jemand hatte ihn dort hingesteckt, als sie das Haus verlassen hatte. Hatte er sie beobachtet – beobachtete er sie vielleicht noch immer?
»Ich glaube, Tante Bernie hat ihn gebracht. Sie stand gerade vor dem Konvent, als ich herkam. Spielt es eine Rolle, wie der Brief dorthin kam? Lies doch endlich! Was steht drin?«
Wie immer schien der Wind genau in dem Moment aufzufrischen, als die Sonne aufging. Ein Wind, der vom Land her wehte und den Duft von Strandpflaumen, Sassafras, Weintrauben und Kiefern mit sich brachte. Er trug die Geräusche aus Star of the Sea zu ihnen herüber, die Stimmen der Nonnen, die Lobeshymnen sangen, und das Läuten der Glocke, das immer zur halben Stunde ertönte. Er zerzauste Honors Haar, und sie verspürte trotz der Sommerzeit und Wärme eine eisige Kälte, die ihr bis ins Mark drang, als sie Johns Brief las.
Er hatte mehrere Abschnitte, und ein jeder beantwortete eine Frage. Honor hielt ihn so, dass ihre Tochter nicht mitlesen konnte.
Die Mondsteine, dachte Honor wie elektrisiert. Es gibt keine Zufälle …
»Was schreibt er, Mom? Bitte, sag schon!«
Honor hob den Blick, sah in die graublauen Augen ihrer Tochter. Sie spiegelten den Schmerz über Johns Abwesenheit wider und die Freude über seinen Brief, den sie soeben gefunden hatte. Die Gezeiten wechselten, die Flut setzte ein, die ersten Spritzer der aufschäumenden Gischt umspülten ihre bloßen Füße. Honor zitterte am ganzen Körper. Sie verzichtete darauf, sich ein Lächeln abzuringen, denn Regis kannte sie zu gut und würde merken, dass es erzwungen war.
»Mom?«
Honor hielt den Brief in der Hand, ein blaues Blatt Papier. Sie dachte an den Inhalt, doch sie wusste, dass Regis sich nur für eine einzige Zeile interessierte.
»Er kommt nach Hause«, antwortete Honor.
Regis machte sich gleich nach dem Gespräch mit Honor auf den Weg zu ihrem Verlobten, mit dem sie verabredet war. Sie fühlte sich so zerrissen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wäre gerne zu ihren Schwestern nach Hause gelaufen, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen. Oder zu Tante Bernie, die in alles eingeweiht und regelmäßiger mit ihm in Verbindung geblieben war als jeder andere. Die sechs Jahre waren mit unerträglicher Langsamkeit vergangen. Sechs Jahre, wie in Märchen und Legenden – eine Zeitspanne, in der Menschen älter wurden, den Verstand verloren oder ihr Erinnerungsvermögen einbüßten.
Doch Regis hatte versprochen, Peter und seine Familie auf einen Ausflug mit dem Boot zu begleiten. So war das, wenn man jemanden liebte – man musste sich am Riemen reißen und versuchen, die Familie des Mannes gern zu haben oder sich wenigstens für sie zu interessieren oder Zeit mit ihr zu verbringen, obwohl man in Wirklichkeit viel lieber alleine gewesen wäre.
Regis ließ Honor am Strand in der Nähe von Star of the Sea zurück und lief über den Sand in Richtung Hubbard’s Point. So
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