Wie soll ich leben?
erstochen. Lussaults Frau Françoise sprang in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster in den Hof des Nachbarhauses und brach sich beide Beine. Der Nachbar eilte ihr zu Hilfe, doch die Angreifer schleiften sie an den Haaren auf die Straße hinaus. Sie schnitten ihr die Hände ab, um ihrer goldenen Armbänder habhaft zu werden, dann spießten sie sie auf und warfen ihre Leiche in den Fluss. Noch Tage später lagen ihre von Hunden zerfressenen Hände vor dem Haus. Ähnliche Szenen spielten sich überall in der Stadt ab, die Seine soll rot vom Blut gewesen sein.
Was Karl mit dem Mord an Coligny (falls er tatsächlich dafür verantwortlich war) auch immer beabsichtigt hatte, dies konnte er nicht gewollt haben. Jetzt befahl er seinen Soldaten, die Ausschreitungen niederzuschlagen, aber es war bereits zu spät. Fast eine Woche lang ging in Paris das Gemetzel weiter, und die Gewalt griff bald auf die Provinzen über. Die blutigen Massaker, die als Bartholomäusnacht in die Geschichte eingingen, forderten allein in Paris fünftausend Opfer. In ganz Frankreich wurden zehntausend Menschen niedergemetzelt. Orléans, Lyon, Rouen, Toulouse, Bordeaux und zahllose kleinere Städte gerieten in den Strudel der Gewalt.
Es war ein furor , wie ihn Montaigne selbst auf einem militärischen Schlachtfeld missbilligt hätte; hier jedoch waren es Zivilisten, die vom Taumel der Gewalt erfasst und deren Opfer wurden. Nur in wenigen Fällen, wie etwa in Bordeaux, waren Soldaten oder Staatsbeamte am Morden beteiligt. Dort begann am 3. Oktober ein blutiges Gemetzel, organisiert offenkundig von dem fanatischen katholischen BürgermeisterCharles de Montferrand; er hatte eine Liste mit möglichen Angriffszielen erstellt. In den meisten Städten wurde unsystematisch gemordet, von Leuten, die sonst als unbescholtene Bürger lebten. In Orléans machte der Mob zwischendurch in den Tavernen Halt, um kurz zu feiern, «begleitet von Gesang, Lauten und Gitarren», wie ein Historiker schrieb. Einige Gruppen bestanden mehrheitlich aus Frauen und Kindern. Die Katholiken deuteten deren Teilnahme als ein Zeichen dafür, dass Gott selbst die Massaker befürworte, da er sogar Unschuldige in den Kampf schicke. Viele glaubten, Gemetzel von solchen Ausmaßen müssten von Gott sanktioniert sein. Sie gingen nicht auf menschliche Entscheidungen zurück, sondern seien göttliche Botschaften an die Menschheit, um kosmisches Unheil anzukündigen, ähnlich wie Missernten oder ein Komet am Himmel. Eine römische Medaille zum Gedenken an die Massaker zeigte Hugenotten, die nicht durch Menschen, sondern durch einen von heiligem Zorn entflammten Engel getötet werden. Dem neuen Papst Gregor XIII. kamen die Ereignisse in Frankreich durchaus gelegen. Er ließ nicht nur die Siegesmedaille prägen, sondern beauftragte auch Giorgio Vasari mit einem dreiteiligen Fresko für die Sala Regia des Vatikans zur Feier des blutigen Triumphs. Auch der französische König nahm an Dankprozessionen teil und ließ zwei Medaillen prägen: eine zeigte ihn als Herkules im Kampf mit der Hydra, die andere stellte ihn auf dem Thron dar, umgeben von nackten Leichen und mit einem Palmzweig in der Hand zum Zeichen des Sieges.
Die Bartholomäusnacht war der Auftakt zu einem neuen Krieg, der mit wenigen Unterbrechungen die ganzen 1570er Jahre hindurch andauerte und sehr viel anarchischer und fanatischer geführt wurde als alle bisherigen Auseinandersetzungen. Plündernde Soldaten, die in den kurzen Friedenszeiten weder Sold bekamen noch unter einem militärischen Kommando standen, richteten viel Unheil an. Viele Bauern flohen lieber und versteckten sich im Wald, als dass sie in den Dörfern auf Übergriffe warteten. Es herrschten von Rache- und Vergeltungsdurst bestimmte vorzivilisatorische Zustände. 1579 schrieb der Provinzanwalt Jean La Rouvière an den König und bat um Hilfe für die bäuerlichen Armen dieses Gebiets – «notleidende, gemarterte und im Stich gelassene Menschen», die sich mit den geringen Erträgen ihrer Felderdurchschlagen mussten, nachdem sie ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten. Zu den Schrecknissen, die sie gesehen oder gehört hatten, zählten Geschichten über Menschen, die
lebendig unter Haufen von Mist begraben, in Brunnen und Gräben geworfen wurden, wo sie verendeten, heulend wie Hunde. Man steckte sie in Kisten, die man vernagelte, mauerte sie in Türme ein, wo sie verhungerten, und hängte sie in den Bergen und Wäldern an Bäumen auf. Man setzte sie vor ein Feuer und
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