Wie soll ich leben?
Arbeitsumfeld zu rekonstruieren.
Die Romantiker verspürten den Wunsch, Montaigne nahe zu sein, wie man dem Menschen nahe sein will, den man liebt: aus demselben Fenster zu blicken wie er oder den Raum zu betreten, wo sein Schreibtisch stand und seine Essais entstanden sind. Wenn man den Trubel im Hof und die Unruhe ausblendete, die gewiss auch sein Zimmer erreichte, konnte man sich den Turm als die Zelle eines Einsiedlers vorstellen. «Eilen wir, die Schwelle zu überschreiten», schrieb Charles Compan, einer dieser frühen Besucher, über Montaignes Turmbibliothek:
Wenn dein Herz in unbeschreiblicher Aufwallung pocht wie meines; wenn die Erinnerung an diesen großen Mann jene tiefe Verehrung in dir auslöst, die man keinem Wohltäter der Menschheit verweigern kann, dann trete ein.
Diese Tradition setzte sich auch über das Ende der romantischen Epoche hinaus fort. Der Marquis de Gaillon beschrieb das Verlassen von Montaignes Turm im Jahr 1862 mit den Worten dessen, der von seiner Geliebten Abschied nimmt:
Doch am Ende muss man diese Bibliothek, dieses Zimmer, diesen teuren Turm verlassen. Leb wohl, Montaigne! Denn diesen Ort zu verlassen bedeutet, von dir getrennt zu sein.
Eine solche Schwärmerei war Montaigne fremd. Jeder Leser blendet aus den Essais das aus, was seiner eigenen Deutung widerspricht, den Romantikern mit ihrem Gefühlsüberschwang fiel dies allerdings schwerer als anderen. Sätze wie die folgenden empörten sie:
Ich habe, da von trägem und schwerfälligem Temperament, keine große Erfahrung in diesen heftigen Gemütsbewegungen.
Ich liebe die bedächtigen Naturen.
Meine Ausschweifungen [tragen] mich keineswegs sehr weit fort. Es ist nichts Maßloses und Außergewöhnliches an ihnen.
Meiner Ansicht nach sind jene Leben am schönsten, die sich ins allgemeine Menschenmaß fügen, auf wohlgeordnete Weise, ohne Sonderwünsche, ohne Wundersucht.
Zu den enttäuschten Lesern zählte auch Alphonse de Lamartine. Anfangs bewunderte er Montaigne und trug ein Exemplar der Essais stets bei sich, um jederzeit darin blättern zu können; später kritisierte er ihn vehement. Montaigne, so sagte er jetzt, habe das wahre Elend des Lebens gar nicht kennengelernt. In einem Brief schrieb er, er habe die Essais nur als junger Mann lieben können – also rund neun Monate vorher, als er anfing, in seinen Briefen von Montaigne zu schwärmen. Jetzt, mit einundzwanzig und von Kummer geplagt, fand er Montaigne zu kühl und gemessen. Vielleicht, so überlegte er, werde er im Alter zu ihm zurückkehren, wenn der Kummer sein Herz ausgetrocknet habe. Jetzt hingegen mache ihn Montaignes maßvolle Haltung regelrecht krank.
George Sand schrieb, sie sei «nicht Montaignes Schülerin», was seine stoische und skeptische «Gleichgültigkeit» angehe, seine Seelenruhe oder Ataraxie, die zu ihrer Zeit längst nicht mehr erstrebenswert schien. Montaignes Freundschaft mit La Boétie als einziges Beispiel für seine Innigkeit und Wärme war ihr zu wenig. Sie wurde seiner überdrüssig.
Für romantische Leser am schwersten zu verkraften war Montaignes Schilderung seiner Begegnung mit dem Dichter Torquato Tasso während seiner Italienreise 1580. Tassos Versepos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem) hatte bei seiner Veröffentlichung im selbenJahr enormen Erfolg, aber der Dichter war in geistige Umnachtung gefallen. Man hatte ihn in ein Irrenhaus gesteckt, wo er unter jammervollen Bedingungen lebte. Auf seiner Italienreise besuchte Montaigne ihn in Ferrara und war entsetzt. Er empfand durchaus Mitgefühl, glaubte aber, Tasso habe sich durch seine dichterische Ekstase selbst in diese ausweglose Situation gebracht. Sein «Klarblick», meinte er, habe ihn «blind gemacht». Montaigne bekümmerte, ja befremdete der Wahnsinn dieses Genies, er bedauerte dessen Selbstzerstörung. Er war sich darüber im Klaren, dass ohne eine «Beimischung von Wahnsinn» Dichtung gar nicht möglich sei. Aber wozu, so fragte er, diese Übersteigerung, die einen den Verstand verlieren lässt? «Der Bogenschütze, der übers Ziel hinausschießt, verfehlt es ebenso wie einer, dessen Pfeil es nicht erreicht.»
Im Blick auf diese beiden so unterschiedlichen Autoren Montaigne und Tasso waren die Romantiker bereit, Montaignes Ansicht zu folgen, dass Tasso durch das Schreiben seinen Verstand zerstört hatte; Montaignes Trauer darüber konnten sie durchaus nachvollziehen. Was sie aber weder verstehen noch ihm verzeihen konnten, war sein Befremden.
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