Wie soll ich leben?
der in hebräischer Schrift stand: «Die Stunde meiner Geburt ist gekommen.» Der führende französische Experte für solche Geschichten war Montaignes Nachfolger im Parlament von Bordeaux, Florimond de Raemond, der auch die Hexenverbrennung befürwortete. In seinem Werk L’Antichrist analysierte er die Zeichen am Himmel, Missernten, Volksaufstände, Barbarei und Kannibalismus im Krieg als Belege für die bevorstehende Ankunft des Satans.
Wer sich unter diesen Umständen an Massakern beteiligte, stellte sich demonstrativ auf die Seite Gottes. Protestantische wie katholische Extremisten überantworteten sich Gott und wandten sich von der Welt ab. Wer weiter seinen alltäglichen Verrichtungen nachging, stand bestenfalls im Verdacht moralischer Schwäche, schlimmstenfalls galt er als Verbündeter des Teufels.
Tatsächlich führten viele Menschen ihr Leben weiter wie bisher. Sie versuchten, sich so weit wie möglich aus den Unruhen herauszuhalten und jenem gewöhnlichen Leben treu zu bleiben, das Montaigne zufolge das weiseste war. Selbst wenn sie an die bevorstehende Konfrontation zwischen Gott und dem Satan glaubten, interessierte sie das nicht mehr als die Skandale und diplomatischen Schachzüge des königlichen Hofes. Viele Protestanten schworen nach 1572 insgeheim ihrem Glauben ab oder verheimlichten ihn zumindest – das indirekte Eingeständnis, dass ihnen ein Leben im Diesseits wichtiger war als das Jenseits. Eine radikale Minderheit fiel ins andere Extrem und rief zum totalen Krieg gegen den Katholizismus und zur Ermordung des Königs auf, des «Tyrannen», der in ihren Augen für den Tod Colignys und all der anderen Opfer der Massaker verantwortlich war. La Boéties Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft wurde jetzt von hugenottischen Extremisten veröffentlicht. Sie instrumentalisierten sein Traktat zur Propaganda, was La Boétie niemals gebilligt hätte.
Doch der Königsmord war gar nicht notwendig, Karl IX. starb am 30. Mai 1574 eines natürlichen Todes. Ihm folgte ein weiterer Sohn Katharina von Medicis auf dem Thron, Heinrich III., der selbst bei den Katholiken noch weitaus unbeliebter war als sein Vorgänger. In den1570er Jahren wuchs die Unterstützung für die Extremisten der katholischen Liga, die mit ihrem Anführer, dem mächtigen und ehrgeizigen Herzog von Guise, der Monarchie in den kommenden Jahren mindestens so viele Schwierigkeiten machte wie die Hugenotten. Von nun an waren die Kriege in Frankreich ein Konflikt zwischen drei Parteien, deren schwächste die Monarchie war. Heinrich versuchte mehrfach, die Führung der Liga zu übernehmen, um sie in seine Politik einzubinden, aber seine Bemühungen scheiterten. Er galt nunmehr als heimlicher Helfershelfer des Satans.
Vielleicht war Heinrich III. für die katholische Liga zu moderat, in anderer Hinsicht war er ein Extremist, dem Montaignes Sinn für Mäßigung fremd war. Montaigne, der ihm mehrmals begegnete, mochte ihn nicht besonders. Heinrich III. umgab sich mit geckenhaften Höflingen, an seinem Hof herrschten Korruption, Luxus und eine absurde Etikette. Er liebte den Tanz und trug in seiner Jugend Satingewänder, Korallenarmbänder und geschlitzte Umhänge. Der modebewusste Monarch führte Hemden mit vier Ärmeln ein, von denen zwei wie Flügel flatterten. Zum Essen benutzte er eine Gabel statt Messer und Finger, im Bett trug er einen Pyjama, und er wusch sich die Haare, gelegentlich. Andererseits zeigte Heinrich auch eine übersteigerte Neigung zu Mystizismus und Bußprozessionen. Je ratloser ihn die Probleme des Reiches machten, desto öfter zog er barfuß durch die kopfsteingepflasterten Straßen – ein Flagellant unter anderen, der Psalmen sang und sich geißelte.
Die Vorstellung, die politische Krise lasse sich durch Gebet und extreme spirituelle Übungen lösen, war für Montaigne völlig abwegig. Er lehnte solche Bußprozessionen ab und verwarf den Glauben an Kometen, Hagelstürme, Missgeburten und andere Zeichen der Apokalypse. Die Propheten des Weltuntergangs, sagte er, drückten sich in der Regel nur sehr vage aus, um später umso leichter sagen zu können, ihre Prophezeiung sei richtig gewesen. Die meisten Berichte über Hexerei waren für Montaigne Ausgeburten der menschlichen Phantasie und hatten mit dem Wirken des Teufels nichts zu tun. Im Allgemeinen hielt er sich jedoch lieber an seinen Wahlspruch: «Ich enthalte mich des Urteils.»
Sein Skeptizismus wurde gelegentlich auch kritisiert: Zwei seiner Zeitgenossen in
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