Wie soll ich leben?
Blendende Brillanz, Melancholie und die inspirierende Kraft der Imagination waren für die Romantiker nachvollziehbar, Befremden nicht.
Montaigne ist offenkundig «kein Dichter», giftete Philarète Chasles, einer dieser Leser. Und Jules Lefèvre-Deumier beklagte Montaignes «stoische Gleichgültigkeit» gegenüber menschlichem Leid, eine Fehlinterpretation dessen, was Montaigne über Tasso geschrieben hatte. Die Romantiker nahmen Partei. Sie identifizierten sich mit Tasso, nicht mit Montaigne, der in ihren Augen die gefühllose Welt repräsentierte, die, wie sie glaubten, auch ihnen selbst feindselig gegenüberstand. Nietzsche hätte Montaigne warnen können.
Die Mäßigkeit sieht sich selber als schön; sie ist unschuldig daran,
dass sie im Auge des Unmäßigen rau und nüchtern,
folglich als hässlich erscheint.
Tatsächlich spielte in diesem Fall Montaigne die Rolle des Rebellen. Wenn er Mäßigung und Gleichmut empfahl und den Wert des dichterischenÜberschwangs anzweifelte, widersprach er dem Geschmack seiner eigenen wie auch dem der romantischen Epoche. Für die Leser der Renaissance war die poetische Inspiration ebenso ein ekstatischer Zustand wie der erbitterte Kampf in einer Schlacht oder das Sichverlieben. In allen drei Fällen scheint Montaigne über einen inneren Thermostat verfügt zu haben, der die Emotionen vor Überhitzung schützte. Deshalb bewunderte er auch Epaminondas, den einzigen Krieger der Antike, der beim Rasseln der Schwerter einen klaren Kopf behielt, und deshalb schätzte er Freundschaft höher als Leidenschaft. «Ins Jenseits entrückte Seelenzustände erschrecken mich», schrieb er. Er bevorzugte Neugier, Geselligkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl, Anpassungsfähigkeit, kluge Reflexion, die Fähigkeit, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, und «Wohlwollen» – all das ist mit dem Furor der Ekstase unvereinbar.
Montaigne behauptete sogar, wahre Seelengröße liege in der Mittelmäßigkeit, was erschreckend, ja extrem klingt. Wir modernen Menschen haben so sehr gelernt, das Mittelmaß als einen verkümmerten, begrenzten Zustand zu betrachten, dass es uns schwerfällt, Montaigne hier zu folgen. Spielt er mit dem Leser wie bei seiner Behauptung, er habe ein schlechtes Gedächtnis und sei schwer von Begriff, oder meint er es ernst? Montaigne misstraut Menschen mit hochfliegenden Ambitionen, die, «statt sich zu erheben, zu Boden stürzen». Wie Tasso streben sie über sich hinaus, büßen dabei aber ihre gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten ein. Wirkliches Menschsein bedeutet aber nicht einfach nur Gewöhnlichkeit und Mittelmaß, sondern «Ruhe und Ordnung in unserm täglichen Verhalten», damit wir die Dinge in ihrem wahren Wert schätzen und uns in jeder Situation angemessen verhalten können. Deshalb sollte «recht zu leben» (vivre à propos) auch «unser großes und leuchtendes Meisterwerk sein» – hehre Worte für ein ganz und gar nüchternes, bescheidenes Ziel. Mittelmaß ist für Montaigne aber nicht der Zustand des stumpfen Menschen, der die Mühe des Nachdenkens nicht auf sich nimmt oder dem es an Phantasie mangelt, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Es bedeutet vielmehr Selbstbescheidung: zu akzeptieren, dass man sich von allen anderen nicht wesentlich unterscheidet, weil jeder Einzelne das ganze Menschsein in sich trägt. Mit Rousseau undseinem Gefühl der Abgehobenheit von allen seinen Mitmenschen hat das nichts zu tun. Für Montaigne ist
nichts so schön und unsrer Bestimmung gemäß wie ein rechter Mensch sein, und keine Kunst so schwer, wie unser Leben recht und natürlich zu leben wissen. Die schrecklichste unserer Krankheiten aber ist die Verachtung unsres Seins.
Er wusste dennoch, dass unsere menschliche Natur sich dieser Erkenntnis nicht immer fügt. Neben dem Wunsch, glücklich zu sein, aufgehoben in uns selbst und im Vollbesitz unserer Kräfte, treibt etwas anderes die Menschen an, immer wieder das Erreichte zu zerstören. Sigmund Freud spricht vom Thanatos-Prinzip, vom Todes- und Zerstörungstrieb. Rebecca West beschreibt es so:
Nur ein Teil in uns ist geistig gesund, nur ein Teil in uns liebt die Freude und länger währendes Glück, möchte neunzig Jahre alt werden und friedlich im eigenen Haus sterben, das auch denen Schutz bietet, die nach uns kommen. Die andere Hälfte in uns ist dem Wahnsinn nahe, sie zieht das Unangenehme dem Angenehmen vor, liebt den Schmerz und möchte in einer Katastrophe untergehen, die das Leben auf
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