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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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dass das Leben, wie es durch seinen Körper strömte, sein eigenes Leben, das Leben Michel de Montaignes, ein hochinteressantes Untersuchungsobjekt war. Er achtete jetzt auf Empfindungen und Erfahrungen nicht im Hinblick darauf, wie sie sein sollten oder welche philosophischen Lehren man aus ihnen ziehen konnte, sondern wie sie tatsächlich waren. Von nun an würde er sich dem Strom des Lebens überlassen.
    Das war für ihn eine neue Disziplin, die nun sein Alltagsleben bestimmte und ihm – durch sein Schreiben – eine Form der Unsterblichkeit verschaffte. In der Mitte seines Lebens also gab Montaigne seinen bisherigen Kurs auf und wurde neu geboren.

2
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Lebe den Augenblick!
Anfangen zu schreiben
    Der Reitunfall selbst, der Montaignes Sichtweise so grundlegend veränderte, dauerte nur wenige Augenblicke, seine Wirkung dagegen entfaltete sich in drei Phasen, die sich insgesamt über mehrere Jahre hinzogen. Da ist zunächst der am Boden liegende, zerschundene Montaigne, den ein Gefühl der Euphorie durchströmt. Dann, in den Wochen und Monaten danach, begegnen wir einem Montaigne, der über dieses Erlebnis nachdenkt und es mit seiner philosophischen Lektüre in Einklang zu bringen sucht. Und schließlich tritt uns jener Montaigne entgegen, der ein paar Jahre später anfängt, darüber – und über zahllose andere Dinge – zu schreiben. Der Unfall selbst konnte jedem passieren. Das Nachdenken darüber war typisch für einen empfindsamen und gebildeten jungen Mann zur Zeit der Renaissance. Doch dass Montaigne darüber zu schreiben begann, macht ihn zu etwas Besonderem.
    Wie der Unfall mit dem Entschluss, darüber zu schreiben, zusammenhängt, ist nicht leicht zu erklären. Jedenfalls richtete sich Montaigne nicht im Bett auf und griff zur Feder. Mit den Essais begann er erst ein paar Jahre später, um 1572, und auch dann schrieb er zuerst andere Kapitel, bevor er über jene Erfahrung des Todes Rechenschaft ablegte. Doch der Entschluss, auf diese Art zu schreiben, führte zu etwas ganz Neuem, das kein anderer Autor vor ihm versucht hatte: Montaigne analysierte seine innersten Empfindungen und folgte ihnen schreibend von einem Augenblick zum nächsten. Und es scheint tatsächlich einen chronologischen Zusammenhang zwischen dem Reitunfall und einem anderen Wendepunkt in seinem Leben gegeben zuhaben, der ihn den Weg zum Schreiben einschlagen ließ: dem Entschluss, sein Amt als Parlamentsrat von Bordeaux aufzugeben.
    Montaigne hatte bis dahin zwei Leben geführt: ein Leben in der Stadt als Inhaber politischer Ämter und eines auf dem Land als Verwalter seiner Güter. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1568 hatte er das Familienanwesen übernommen, seinen Posten in Bordeaux jedoch behalten. Anfang 1570 verkaufte er dieses Amt. Neben dem Unfall gab es dafür noch andere Gründe. Er hatte sich vergeblich um eine Stelle an einer höheren Kammer des Parlaments beworben: eine Beförderung, die wahrscheinlich von politischen Gegnern hintertrieben wurde. Es wäre normal gewesen, Widerspruch einzulegen und um die Beförderung zu kämpfen, aber Montaigne zog sich zurück, sei es aus Verärgerung, sei es aus Enttäuschung. Vielleicht aber auch, weil sich durch die Begegnung mit dem eigenen Tod und nach dem Tod seines Bruders seine Einstellung zum Leben grundsätzlich verändert hatte.
    Montaigne hatte dreizehn Jahre lang im Parlament von Bordeaux gearbeitet, jetzt war er siebenunddreißig – nach den Maßstäben seiner Zeit in mittleren Jahren, aber keineswegs alt. Trotzdem entschloss er sich zum Rückzug aus dem Trubel des öffentlichen Lebens, um eine neue, kontemplative Existenz zu beginnen. An seinem achtunddreißigsten Geburtstag, fast ein Jahr nach seinem Rückzug aus allen politischen Ämtern, dokumentierte er diesen Schritt durch eine lateinische Inschrift, die er an der Wand seiner Bibliothek anbringen ließ:
    Im Jahr des Herrn 1571, im achtunddreißigsten Lebensjahr, am letzten Tag des Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des Gerichts und der öffentlichen Ämter müde, in voller Schaffenskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen [der Musen] zurückgezogen, wo er in Ruhe und aller Sorgen ledig die Tage verbringen wird, die ihm noch zu leben bleiben. Möge das Schicksal es ihm vergönnen, diese Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, die er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.
    Von nun an lebte

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