Wie soll ich leben?
Jetzt, mit Mitte vierzig, erlebte er sie am eigenen Leib.
Nierensteine entstehen, wenn sich Kalzium oder andere Mineralien im Urin zu Klumpen und Kristallen verdichten, die die Harnwege blockieren. Wenn sie zersplittern, können sie scharfkantige Brocken bilden; bei ihrem Abgang durch den Harnleiter verursachen sie höllischeSchmerzen. Die Steine führen auch zu Nierenkoliken, stechenden Schmerzen im Unterleib und im Rücken, manchmal zu Übelkeit und Fieber. Auch wenn die Nierensteine abgegangen sind, ist das nicht das Ende der Qualen, denn es können immer wieder neue entstehen. Zu Montaignes Zeit waren Nierensteine wegen des Urinstaus und des hohen Infektionsrisikos lebensbedrohlich.
Heute lassen sich Nierensteine mittels akustischer Druckwellen in kleinste Fragmente zerkleinern, die mit dem Harn ausgeschieden werden; zu Montaignes Zeit konnte man nur hoffen, dass die kugel-, nagel-, nadel- und klettenförmigen Steine ihren Weg durch den Harnleiter fanden. Montaigne versuchte, sie mit dem Urin auszuschwemmen, indem er Druck aufbaute, doch das war gefährlich und schmerzhaft, auch wenn es manchmal funktionierte. Er probierte auch verschiedene Arzneien aus, obwohl er ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Arzneikunde hegte. Einmal nahm er «venezianischen Terpentinbalsam (der angeblich aus den Tiroler Bergen kommt): zwei von einer Oblate umwickelte große Stücke auf einem Silberlöffel, den man vorher mit ein, zwei Tropfen eines wohlschmeckenden Sirups beträufelt hatte». Er verspürte jedoch keine andere Wirkung, als dass der Urin nach Märzveilchen roch. Das Blut eines Ziegenbocks, der mit harntreibenden Kräutern gefüttert worden war, und Wein wurden gleichfalls als hilfreich erachtet. Montaigne zog einen solchen Ziegenbock auf seinem Gut auf, verzichtete aber auf die Therapie, nachdem er in den Eingeweiden des geschlachteten Tieres einen Stein ähnlich den seinigen entdeckt hatte. Es leuchtete ihm nicht ein, dass das Blut eines Tieres, das eine ähnliche Krankheit hatte wie er selbst, ihm helfen sollte.
Die gängige Therapie bei Nierensteinen waren Mineralwasserkuren und Thermalbäder. Montaigne probierte auch das, immerhin war es eine harmlose, natürliche Methode. Die Bäder lagen oft in reizvoller Umgebung, und er lernte interessante Leute kennen. Ende der 1570er Jahre besuchte er mehrere Kurbäder in Frankreich. Die Nierensteine kamen zwar trotzdem wieder, lieferten ihm aber einen triftigen Grund und einen willkommenen Vorwand zum erneuten Aufbruch, diesmal um die berühmten Bäder in der Schweiz und in Italien aufzusuchen.
Im Sommer 1580 also brach der inzwischen berühmte siebenundvierzigjährigeAutor von seinem Landsitz und seinen Weinbergen auf, um Heilung für sein Gebrechen zu finden und die Welt oder zumindest ausgewählte Gebiete Europas zu sehen. Er plante, bis November 1581 unterwegs zu sein: siebzehn Monate. Zunächst reiste er durch einige Gebiete Frankreichs, offenkundig in geschäftlichen Angelegenheiten und vielleicht auch, um politische Missionen zu erfüllen. Unter anderem wurde er in Paris von König Heinrich III. empfangen, dem er seine Essais überreichte. Anschließend wandte er sich Richtung Osten, nach Deutschland, überquerte die Alpen und kam in die Schweiz und schließlich nach Italien. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Reise sehr viel länger dauern können und ihn in entlegenere Gegenden geführt. Irgendwann spielte er sogar mit dem Gedanken, sich nach Polen zu wenden, begnügte sich aber dann mit dem sehr viel konventionelleren Ziel Rom, Endpunkt der Pilgerreise eines guten Katholiken und Krönung der grand tour jedes Bildungsreisenden der Renaissance.
Montaigne genoss nicht den Luxus, allein zu reisen. Ein vermögender Adliger wie er war mit großem Gefolge unterwegs: mit Bediensteten, Bekannten und Reisebegleitern, von denen er sich allerdings so oft wie möglich abzusondern versuchte. Zu seiner Gruppe zählten vier junge Leute auf Bildungsreise. Einer war sein jüngster Bruder, Bertrand de Mattecoulon, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Die anderen waren der Ehemann einer seiner Schwestern und der halbwüchsige Sohn eines Nachbarn sowie dessen Freund. Im Laufe der Reise verabschiedeten sie sich nacheinander zu anderen Zielen. Am glücklosesten war Mattecoulon, der in Rom das Fechten lernen wollte und im Duell einen Mann tötete. Montaigne musste alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien.
Das Reisen selbst war damals nicht weniger
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