Wie soll ich leben?
ja nicht von der ihnen unbekannten Atmosphäre angesteckt zu werden.» Im Reisetagebuch bemerkte der Sekretär, wie sehr Montaigne selbst zum Gegenteil neigte und jedes Land, in das sie kamen, mit Lob überschüttete, während er für sein eigenes kein gutes Wort übrig hatte. «Natürlich floss in sein positives Urteil über dieses Land auch ein wenig die leidenschaftliche Verachtung seines eignen ein, das ihm aus anderen Gründen zuwider und verhasst war», meinte der Sekretär, vielleicht in Anspielung auf die Bürgerkriege.
Als anpassungsfähig erwies sich Montaigne auch in punkto Sprache. In Italien sprach er Italienisch und schrieb sogar sein Reisetagebuchauf Italienisch, das er von nun an selbst weiterführte. Er passte sich seiner Umgebung an wie ein Chamäleon oder ein Tintenfisch und versuchte, möglichst inkognito zu reisen. In Augsburg, schrieb der Sekretär, «wollte der Herr de Montaigne aus bestimmten Gründen […] nicht, dass man die gewünschten Auskünfte erteile und unseren wahren Stand verrate. Daher verzichtete er auch, als er sich den ganzen Tag in der Stadt umsah, auf sein Gefolge.» Aber das nutzte nichts. Als er in einer eiskalten Kirche Augsburgs in der Bank saß und seine Nase lief, zog er gedankenlos sein Taschentuch heraus und hielt es sich vor die Nase. Aber in Augsburg benutzte man keine Taschentücher, und so identifizierte man Montaigne sofort als Fremden, was ihn ärgerte. «So ereilte ihn schließlich gerade das Übel, dem er am meisten zu entfliehen suchte: bei den Einheimischen durch ein von ihren Sitten und Gebräuchen abweichendes Benehmen Auffallen zu erregen.»
Kirchen spielten auf Montaignes Reise überhaupt eine große Rolle. Er suchte sie nicht auf, um zu beten, sondern weil ihn die Liturgie interessierte: in den protestantischen Kirchen Deutschlands ebenso wie in den katholischen Italiens. In Augsburg nahm er an einer Kindstaufe teil und stellte (nachdem man ihn als Fremden enttarnt hatte) viele Fragen zu diesem Ritual. In Italien besuchte er Synagogen und wohnte in einem Privathaus einer jüdischen Beschneidung bei.
Merkwürdige Ereignisse und Geschichten weckten stets sein Interesse. Im lothringischen Plombières-les-Bains, noch am Anfang seiner Reise, begegnete er einem Soldaten, bei dem «eine Stelle seines Barts und eine halbe Augenbraue ganz weiß» waren. Der Mann erklärte Montaigne, sein Bart und seine Augenbraue seien an einem einzigen Tag weiß geworden, als sein Bruder gestorben sei und er stundenlang dasaß und weinte, diese Seite des Gesichts in eine Hand gestützt. In Vitry-le-François erfuhr er die Geschichte von sieben oder acht Mädchen, die «den Plan ausgeheckt hatten, sich als Männer zu verkleiden». Eine heiratete eine Frau und lebte mehrere Monate mit ihr, «vergnüglich», wie man ihm sagte, bis jemand den Fall den Behörden meldete und sie gehängt wurde. In derselben Region lebte ein Mann, Germain, der bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr weiblich war, bis ihm eines Tages, als er über ein Hindernis sprang, «männliche Geschlechtsteile» hervorschnellten. In der Stadt entstand daraufhin ein Lied, in dem dieMädchen ermahnt wurden, ihre Beine beim Springen nicht zu weit zu spreizen, damit ihnen nicht dasselbe passiere.
Montaigne war fasziniert von den Tischsitten, die ja immer einen willkommenen Anlass bieten, Kulturen miteinander zu vergleichen. In der Schweiz wurden die «vor den Gästen stehenden Becher oder Silberpokale aus einem Zinn- oder Holzgefäß mit langer Schnepfe» gefüllt. Und nach dem Fleischgericht warfen alle ihren Teller in einen geflochtenen Korb in der Mitte des Tisches. «Zudem verwendet der Schweizer zu jedem Gericht ein Messer, und kaum greift er je mit den Fingern zu.» Die Schweizer benutzten bei Tisch als Serviette nur ein Tuch von einem halben Fuß Länge, «obwohl sie reichlich Soßen und Topfgerichte zu sich nehmen». Noch mehr verwunderten ihn die schweizerischen Schlafzimmer. «Ihre Betten sind so hoch, dass man zumeist auf Stufen in sie steigt; und fast immer stehn unter den großen Betten noch kleine.»
Alles, was Montaigne bemerkenswert erschien, diktierte er seinem Sekretär in die Feder. In einem Gasthaus in Lindau war «in die Täfelung des Speisesaals eine Art Käfig für eine Unzahl von Vögeln eingelassen. Er war mit an Messingdrähten befestigten Hängestegen versehn, auf denen die Vögel von einem Ende des Saals zum andern spazierten.» In Augsburg begegneten sie einer Gruppe von Leuten,
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